Michelle Becka: Motivation, Transformation, Resignation?

Diakonisches Handeln im Justizvollzug

Zur Referentin: Prof. Dr. Michelle Becka ist Professorin für christliche Sozialethik an der katholisch-theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Sie forscht insbesondere zu Fragen der Ethik im Justizvollzug und ist u.a. in der Arbeitsgruppe "Diakonische Pastoral" der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz beratend tätig.

Begrüßung und Einführung

Am 09. Dezember 2021 fand der dritte Vortrag im Rahmen des Bamberger Theologischen Forums im Wintersemester 2021/22 statt. Die Vortragsreihe, die präsentisch begann, wird nun pandemiebedingt vollständig online weitergeführt. Nach den ersten beiden Vorträgen von Prof. Dr. Martin Ebner, der zu Gerechtigkeitsvorstellungen im Neuen Testament referierte, sowie Dr. Kuno Füssl, der einen befreiungstheologischen Fokus setzte, nahm Prof. Dr. Michelle Becka in ihrem Vortrag Motivation, Transformation, Resignation? Diakonisches Handeln im Justizvollzugdie pastorale Praxis und hier insbesondere die Gefängnisseelsorge in den Blick. Stefan Huber, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theologische Ethik, begrüßte die Referentin und stellte sie vor. Zentrale Frage des Vortrags war, wie ein diakonisches Handeln unter den vorherrschenden Bedingungen im Gefängnis möglich ist.

Vortrag

Michelle Becka begann ihren Vortrag mit einigen grundlegenden Aspekten zu Strafe: Der Mensch als verantwortliches Subjekt kann entscheiden und dementsprechend handeln. Wir müssen für die Folgen unseres Handelns einstehen, das ist unhintergehbar. Deshalb ist es nötig, diese Verantwortung ernst zu nehmen. Michelle Becka ging auf die Straftheorien ein, welche Ziel und Sinn des Strafens definieren und zur Legitimation des starken Freiheitseingriffs dienen. Hierbei sind absolute und relative Straftheorien zu unterscheiden. Zu den absoluten Straftheorien zählen Kant und Hegel: Eine Strafe ist nötig, um die Tat zu vergelten. Dahinter steht die Annahme, dass es nicht egal sein darf, was der Mensch getan hat. Dem Recht muss also genüge getan werden, sonst ist das Recht gefährdet. Strafe ist hierbei die Notwendigkeit der normativen Ordnung und gleichzeitig die Aufrechterhaltung der normativen Ordnung. Demgegenüber stehen die relativen Theorien: Dabei wird auch die Opfer-Täter-Relation berücksichtigt, diese Wirkungen werden mitbedacht. Dominantes Moment ist hierbei die Prävention: Eine Strafe dient der Besserung, aber auch der Abschreckung der Täter:innen und der Gesellschaft. Durch den Aspekt der Besserung wird suggeriert: Menschen können sich verbessern, die Strafe wird somit humaner. Heute werden in den sogenannten Vereinigungstheorien Aspekte beider Theorien integriert.

Michelle Becka stellte heraus, dass alle Handlungen in der Justizvollzugsanstalt der Dominanz des Sicherheitsparadigmas bzw. der Maxime Es darf nichts passieren unterliegen, was allerdings zu Lasten der – ohnehin kaum vorhandenen – Freiheiten der Inhaftierten geht. Im Zweifelsfall wird immer zugunsten dieser Maxime entschieden bzw. es wird (noch) weniger erlaubt, womit Räume (beispielsweise Freigang oder Angebote) tendenziell weiter reduziert statt erweitert werden. Diese Dominanz des Sicherheitsparadigmas und das Übermaß an Kontrolle stehen aber im Widerspruch zum eigentlichen Vollzugsziel, der Resozialisierung. Dies ist gesetzlich geregelt (§2 StVollzG): »Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.« Die Sicherheit der Allgemeinheit ist der Resozialisierung nachgeordnet, dennoch wird das Sicherheitsbedürfnis immer dominanter. Eine absolute Sicherheit kann es jedoch nicht geben, es besteht also die Gefahr, dass das Strafrecht und die Täter:innen instrumentalisiert werden, um den versprochenen Schutz und die Sicherheit zu gewährleisten. Erving Goffmann charakterisierte das Gefängnis zudem als totale Institution: Merkmal einer totalen Institution ist, dass diese nur auf einen Ort reduziert ist, an dem sich das ganze Leben abspielt. Der Tagesablauf ist streng strukturiert und kann nicht eigenverantwortlich gestaltet werden. Es finden kaum soziale Kontakte nach außen statt. Zudem werden der Ort bzw. die Institution durch Andere verwaltet. Wie können das Ziel der Resozialisierung und ein Leben in »sozialer Verantwortung« unter diesen Bedingungen erreicht werden? Und was bedeutet das für die Arbeit im Gefängnis? Michelle Becka machte dies am Beispiel der Seelsorge deutlich: Die Gefängnisseelsorge nimmt eine besondere Stellung innerhalb der Anstalt ein, sie wird wahrgenommen und als wichtig erachtet. Auch die Deutsche Bischofskonferenz appelliert: »Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen.« (Heb 13,3) In der Gefängnisseelsorge müssen drei Ebenen berücksichtigt werden: Person, Institution, Gesellschaft. Der Mensch darf nicht auf seine Tat reduziert werden. Dies ist zwar schwierig, aber nötig, da nur so eine Resozialisierung möglich ist. Zudem ist es Aufgabe der Seelsorge, den Menschen als Menschen zu sehen, man muss ihm gerecht werden und ihn ernst nehmen. Diakonie bedeutet Dienst am Einzelnen, das heißt, es werden Verwirklichungsräume gesucht.

Auf der institutionellen Ebene können die Kirche und die Seelsorge in ihrer Sonderrolle für Verständigung sorgen. Eine mögliche Brücke sieht Becka in den interdisziplinären Ethikkomitees in Gefängnissen: Hier können alltägliche Handlungen reflektiert und neue Perspektiven für einen würdevollen Umgang im Justizvollzug eröffnet werden: Ist das wirklich nötig? Ist das gerecht? Durch das Hinterfragen der Praxis können Ethikkomitees zur Realisierung des Vollzugsziels beitragen.

Auf gesellschaftlicher Ebene muss es das Ziel sein, die Inhaftierten nicht aufzugeben und ihnen wieder Brücken in die Gesellschaft zu bauen. Ihre Anliegen müssen hörbar gemacht werden. Auch dies ist allerdings herausfordernd, da das Gefängnis nach Foucault ein Anders-Ort ist, ein Ort, an dem Menschen »gelagert« werden, sogenannte »Widerlager« oder Heterotopien. Aber eine Gesellschaft muss sich auch diesen Orten stellen und kann Individuen, die von der Norm abweichen, nicht dauerhaft »auslagern«.

Fazit

Ihr Fazit: Diakonisches Handeln in der Justizvollzugsanstalt kann zu Gerechtigkeit beitragen – aber nur, wenn es sich auf den verschiedenen Ebenen erstreckt. Eine Ebene alleine reicht nicht. Häufig ist man in der Seelsorge auch mit Resignation konfrontiert, die Seelsorger:innen fühlen sich alleine gelassen. Dennoch überwiegt die Motivation, etwas zu tun, statt nichts zu tun. Missstände müssen benannt und auf ihre Veränderung hingewirkt werden, eine Transformation zu mehr Gerechtigkeit ist also möglich. So plädierte Becka insbesondere für mehr Wertschätzung und Würdigung der Menschen, die in der Seelsorge tätig sind, auch von Seiten der Institution Kirche und der Theologie. Es ist unbedingt nötig, diesen Schatz zu erhalten und die Menschen zu unterstützen, so Becka weiter.

Im Anschluss an den Vortrag

Im Anschluss an den Vortrag ergab sich eine angeregte Diskussion, die von Stefan Huber moderiert wurde. Der nächste Vortrag findet am Donnerstag, 13. Januar 2022, statt. Dabei wird Prof. Dr. Markus Vogt zum Thema Brennpunkte ökologischer Gerechtigkeit aus christlicher Sicht referieren. Weitere Informationen und die Zugangsdaten hier.


Den Text verfasste Sophia Bertold. Er steht Journalist:innen zur freien Verfügung.