Wie jüdisch ist das christliche Abendland?

In Zeiten, in denen patriotische Bewegungen immer stärker werden, nimmt in Westeuropa auch die Betonung der Werte und Traditionen des so genannten „christlichen Abendlandes“ zu. Der Terminus „christliches Abendland“ dient dabei als Begriffspaar, das viele Menschen mit „Heimat“ verbinden und bisweilen als Legitimation für die Ablehnung von „Zuwanderung“ verwenden. Prof. Dr. Michael Wolfssohn setzte sich in seinem Vortrag „Wie jüdisch ist das christliche Abendland?“ am 05. Dezember 2019 im Rahmen des Theologischen Forums kritisch mit diesem Begriff und dessen Verwendung auseinander.

Prof. Dr. Wolfssohn, der an der Universität der Bundeswehr in München geforscht und gelehrt hat, wurde von der Bamberger Judaistin Prof. Dr. Susanne Talabaron mit Perspektiven auf sein umfassendes historisches Oeuvre vorgestellt. Er begann seinen Vortrag mit einer Klärung des Begriffs „Abendland“ aus verschiedenen Perspektiven. Etymologisch stehe Abendland bzw. Okzident dem Morgenland bzw. Orient gegenüber. Die Begriffe Abendland und Morgenland würden nicht selten zur Abgrenzung verschiedener Welten verwendet – häufig zur Unterteilung in Ost und West. Geographisch sei eine Definition des Abendlandes schwierig. Wolfssohn verwies auf das Online-Lexikon Wikipedia, das – zum Vortragszeitpunkt – das Abendland in den Ländern Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Portugal und dem Vereinigten Königreich verorte; warum aber nicht in Skandinavien, Osteuropa oder Griechenland? Dass der Begriff Abendland vor allem assoziativ und weniger präskriptiv ist, wurde den sehr zahlreichen Zuhörer*innen schon in den ersten Minuten des Vortrages bewusst.

Der Historiker Wolffsohn führte weiter aus, dass eine ideologische Begründung menschengemachter Differenz bereits in der Antike gängig war und immer wieder zu Kriegen führte – so etwa Konflikte zwischen dem freiheitlichen „westlichen“ Polis-Staat Athen und dem kämpferischen „östlichen“ Sparta. In theologischer Hinsicht sei die Betrachtung des so genannten Abendlandes ebenfalls interessant, zumal es im „christlichen Abendland“ lange Zeit keine Christen gegeben hat. Vielmehr sei das Christentum, das gegenwärtig oft mit dem Abendland assoziiert werde, ohne den Orient gar nicht denkbar – es würde ohne ihn nicht existieren. Und ohne das Judentum würde „das“ Abendland nicht seiner gegenwärtig konturierten Form existieren, denn Juden sind im damit bezeichneten Gebiet schon länger vertreten als Christen. Letztlich sei das Abendland ebenso jüdisch und heidnisch wie auch christlich geprägt, womit „heidnisch-jüdisch-christliches Abendland“ die geeignetere Bezeichnung wäre.

Wolfssohn lenkte nach historischen Einordnungen seinen Blick auf die Gegenwart. Momentan fände, so der Vortragende, eine starke „Ent-Christlichung“ in westeuropäischen Ländern statt, womit das legitimatorische Argument eines „christlichen Abendlandes“ zunehmend hinfällig werde. In ideologiekritischer Hinsicht stellt der Terminus „christliches Abendland“ überdies einen ethischen, christlich-religiös begründeten Maßstab dar: Das Abendland wäre nämlich erst im wahren jesuanischen Sinne christlich, wenn die auf diesem Gebiet lebenden Menschen alle Menschen tolerieren und akzeptieren würden. Am Ende des Vortrags und der sich anschließenden Diskussion blieb den Zuhörer*innen die Beantwortung der Frage, wie jüdisch das christliche Abendland sei, freilich selbst überlassen.

Im Anschluss an den Vortrag fand der offizielle Semesterempfang des Instituts für Katholische Theologie statt.

Hinweis

Diesen Text verfasste Anna C. Pistner. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.