Wotan ohne Aktentasche
Albert Gier, Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Musiktheater, zeigte Parallelen auf zwischen Dorsts Stück in 97 Szenen „Merlin“ und Wagners „Ring“. Dorst bestätigte dies zwar im Hinblick auf die Länge der beiden Werke, die mutmaßliche Unaufführbarkeit und ähnliche Sujets, wies aber auch auf große Gegensätze hin: „Merlin steht im Zeichen unserer Zeit“, so Dorst, wohingegen der „Ring“ aus den Zeitumständen Wagners gedeutet werden müsse. Dies lasse sich auch als eine Leitlinie seiner Inszenierung festmachen: „Eine große Rolle spielt in meiner Inszenierung die Zeit“, kündigte Dorst an. „Wagner geht mit der Zeit sehr frei um. So sind die Nibelungen uns heute eigentlich nah, auch wenn sie zeitlich nicht greifbar sind. Auch wir leben heute in verschiedenen Zeitaltern.“
Starke Frauen im Zeitalter der Herrenzimmermoral
Der eindrucksvolle Wagnerzyklus fordere, so Tankred Dorst, den Einsatz verschiedener Theatermittel. Eine gewisse Demut vor dem Werk war dem 1925 in Sonneberg geborenen Autor anzusehen, als er von Albert Gier auf die Rolle des Regisseurs angesprochen wurde. Man müsse den „Ring“ als Kunstwerk Richard Wagners auf die Bühne bringen und nicht dem Publikum eigene Assoziationen aufzwängen. Von den Inszenierungen, die die Wagnerschen Götter in die Tagesaktualität einbeziehen, zeigte sich Dorst gelangweilt und zitierte Loriot, der sich schon lange nach einem „Wotan ohne Aktentasche“ sehne. „Als moderner Autor geht einem anfangs das Wort ‚Held’ nur schwer und zögerlich über die Lippen“, verriet Dorst, von dessen Werken viele den Sagenkreis um die ritterliche Tafelrunde rezipieren. So lautet ein Ansatz für die Ringinszenierung schlichtweg: „Man muss dieses Weltmärchen in seiner Phantasie und Schönheit einfach erzählen, zugleich aber die lange Geschichte lebendig halten.“
Ob Dorst – auch ohne Aktentasche – neue Akzente bei den Wagnerschen Figuren setzen wird, ließ der 80-jährige im Unklaren. Auf Giers Frage zu den Frauengestalten im Ring fiel es dem Autor schwer zu antworten. Etwas unvermittelt kam er zu dem Schluss, die Frauen in Wagners Ring seien die eigentlich starken Figuren, schränkte dies allerdings dann eher auf Brünhilde ein. Sie sei die starke, befreite Hauptfigur Wagners Tetralogie, die in einer Zeit, die von der Herrenzimmermoral des 19. Jahrhunderts geprägt sei, Akzente setze, erklärte Dorst.
Kleine Hoffnung für den Weltuntergang
Tankred Dorst legte im Bezug auf allgemeine Aussagen zum „Ring des Nibelungen“ oftmals fast vorsichtige Zurückhaltung an den Tag, die man vielleicht aber auch als eine gewisse Unsicherheit deuten könnte. An mehreren Stellen verwies er auf das „Gesamtkunstwerk Wagner(s)“, das in gewissen Punkten unergründlich sei. Er beschrieb eindrücklich die Elemente aus Wagners Zeit, die sich im „Ring“ finden: Die Widersprüche des 19. Jahrhunderts, wie etwa das Verhältnis zur spätromantisch verklärten unberührten Natur und den rauchenden Schloten der kapitalistischen Fabriken. Das Anziehende am „Ring“ sei, so Dorst, sicherlich die von der Epoche getragene Stimmung einer Ritterzeit, die auf das Publikum fast einen Religionscharakter ausübte und Wagner als Religionsgründer erscheinen ließ.
Ganz offen steht für Tankred Dorst der Schluss der „Götterdämmerung“. Wie er den Weltenbrand, ein – wie Albert Gier bemerkte – in eine utopische Dimension verrücktes und deshalb heute wenig glaubwürdige Ende, umsetzen würde, wisse er noch nicht. Fest stehe für ihn das Ende der Götter als physischer Weltuntergang, so Tankred Dorst, aber „eine kleine Hoffnung mag es dennoch geben“.