Um die 100 Krippenbauer nehmen jedes Jahr am Wettbewerb um Krakaus schönste Krippe teil (Fotos: Andrea Lösel)

Vom Turm der Marienkirche ertönt zu jeder vollen Stunde das Hejnal, eine Trompetenfanfare

Traditionelle Keramikerzeugnisse und allerhand Leckereien gibt es auf dem Weihnachtsmarkt zu erwerben

- Andrea Lösel

Vom Teller, der immer leer bleibt

Orientalischer Glanz und katholische Weihnachtsbräuche

Exakt 39 Sekunden. Solange liegt die Melodie über der Stadt, dann reißt der Trompetenton abrupt ab. Die Fanfare dringt bis in den letzten Winkel der Innenstadt. Vorbei an Pferdekutschen, prunkvollen Bürgerhäusern und ein paar Straßenmusikern, die der Kälte trotzen, stapfe ich durch Krakaus Kopfsteinpflaster-Gassen. Ab und an werfe ich einen Blick in eines der buntgeschmückten Schaufenster, auf der Suche nach den letzten Weihnachtsgeschenken. Ich habe gerade den Rynek Główny, den mit 200 mal 200 Metern einst größten Marktplatz Europas, erreicht, als die Fanfare ausklingt. Dieser Triumpfruf, Hejnał genannt, begleitet mich seit Beginn meines Erasmus-Jahres, seit Oktober, jeden Tag.

Zu jeder vollen Stunde schickt ein Trompeter den Weckruf vom Turm der Marienkirche. Ganz unvermittelt bricht die Fanfare ab, genauso wie im Jahre 1241, als der Pfeil eines Tataren dem damaligen Stadtwächter die Kehle durchbohrte. Doch die Krakauer, durch das Signal des mutigen Trompeters früh genug gewarnt, konnten ihre Stadt erfolgreich verteidigen.

Sobald der Trompeter das Instrument von den Lippen setzt, winkt er der Touristenschar zu, die sich mit ihren Fotoapparaten unterhalb der Marienkirche versammelt hat, ehe er das Turmfenster schließt. Doch heute winken nicht so viele zurück wie sonst. Eine Krakauer Weihnachtstradition macht ihm Konkurrenz.

Der Glanz von Tausendundeiner Nacht

Es ist der erste Donnerstag im Dezember. Rund um die Bronzestatue des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz haben sich Touristen und Einheimische versammelt, um den Krakauer Krippenwettbewerb zu bestaunen. Seit 1937, unterbrochen nur durch den Zweiten Weltkrieg, gibt es einen jährlichen Wettbewerb um die schönste Krippe Krakaus. Daran nehmen über hundert Krippenbauer teil. Zu Füßen von Mickiewicz haben sie ihre Kunstwerke drapiert.

Die Szobki, die Krakauer Weihnachtskrippen, sind aus Holz geschnitzt, mit Pappe konstruiert und mit buntem Staniolpapier beklebt. Die ornamentreichen Zwiebeltürme und Kuppeln ragen teils über einen Meter in die Höhe. Sie lassen an den orientalischen Glanz aus Tausendundeiner Nacht denken. Und an den Glanz Krakaus: Die meisten Krippen sind der gotischen Marienkirche, bisweilen auch anderen Krakauer Kirchen oder dem Schlosshügel Wawel, nachempfunden.

Die Szobki haben eine lange Geschichte – entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Not vieler Tischler und Maurer, die im Herbst und Winter keine Aufträge einfuhren. In den kalten Monaten bauten sie Krippen. Mit denen gingen sie von Haus zu Haus, führten vor der Szobka-Kulisse Krippenspiele auf und bestritten so ihren Lebensunterhalt.

Weihnachtsgrüße per Post

Gegen Mittag zieht das Spektakel zum Historischen Museum weiter. Ich wende mich ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Der Duft von Glühwein vermischt sich mit dem gebratener Mandeln und kündigt den Weihnachtsmarkt an. Auf die rot-weiß-gestreifte Plane über den Tischchen mit den Keramiktassen und Weihnachtskarten fallen ein paar Schneeflocken. Flüchtig lasse ich den Blick über die Weihnachtskarten schweifen. Marienabbildungen, Jesuskind in der Krippe oder einfach nur ein stilisierter Tannenbaum. Darunter steht in Kursivlettern der Schriftzug: Wesołych Świąt – Frohes Fest. Einigen Karten liegt eine rechteckige Oblate bei. „Karolina fragen“, notiere ich mir im Geiste und nehme mir vor, mir später von einer polnischen Kommilitonin erzählen zu lassen, welcher Weihnachtsbrauch dahinter steckt.

Um vier ist es schon dunkel. Unter dem dumpfen Licht einiger Laternen laufen Karolina und ich durch den Planty. Der Platny ist ein ringförmiger Grüngürtel, der die ganze Altstadt umschließt. Früher verlief hier die Stadtmauer. An einzelnen Stellen kann man noch ein paar ihrer Steine sehen. Wir steuern auf Kazimierz zu – das jüdische Kultviertel im Süden der Stadt. Durch enge, gepflasterte Gassen führt uns unser Weg zum Plac Nowy. Einige Marktstände haben noch offen. Für ein paar Złoty gibt es dort Zapiekanki: Eine Weißbrotstange mit Zwiebeln und Champignons überbacken. Noch zu Ostblockzeiten wurden Zapiekanki als sozialistisches Fastfood-Angebot entwickelt. Um den Plac Nowy herum reiht sich eine Kneipe an die nächste. Es gibt Lokale, in denen man durch Schränke in den nächsten Raum gelangt, auf einer Schaukel an der Theke sitzt und an seinem Bier nippt.

Wir steuern das erste Café an. Zeitungen verkleiden die Wand, wir gehen über knarrende Dielen. An der Theke bestelle ich einen Miód Pitny, einen Honigwein. Im Sommer gibt es ihn kalt, im Winter heiß und mit Zimt und Nelken. Karolina ordert ein grzane piwo z sokiem malinowym, warmes Bier mit Himbeersirup.

12-Gänge-Mahl und unbekannte Gäste

Wir stellen unsere Gläser auf eine ausgediente Bassdrum. Ich frage Karolina nach polnischen Weihnachtsbräuchen, sie beginnt zu erzählen. Von der traditionellen Mitternachtsmesse. Vom gemeinsamen Weihnachtslieder-Singen. Vom Heu unter dem Tisch – zur Erinnerung an Christi Geburt in einem Viehstall. Vom polnischen Weihnachtsessen – das offenbar recht üppig ausfällt. Es besteht aus genau zwölf Gerichten, Symbol für die zwölf Apostel. „Meine Mutter macht aber meistens nur fünf Gerichte“, fügt Karolina hinzu, als ich sie ungläubig anstarre.

Genauer dagegen nehmen es die polnischen Familien mit einem anderen Brauch: Beim Weihnachtsmahl steht ein zusätzliches Gedeck auf dem Tisch, für den Fall, dass ein unerwarteter Gast vorbeikommt, der selbst kein Zuhause hat. „Und was ist mit den Oblaten?“, will ich wissen. „Spokojne, spokojne!“, beschwichtigt mich Karolina – immer mit der Ruhe! Sobald an Heiligabend der erste Stern am Himmel steht, kommt die Familie am Tisch zusammen. Man liest die Weihnachtsgeschichte vor, anschließend wird gemeinsam gebetet.

Und dann kommt dieser wohl einzigartige Brauch des Oblatenbrechens. Jedes Familienmitglied erhält eine Oblate. Man bricht sich ein Stück von der Oblate des anderen ab, isst es und wünscht demjenigen das Beste. Und auch was es mit den Postkarten-Oblaten auf sich hat, weiß Karolina: Um die nicht anwesenden Freunde und Familienmitglieder an dem Ritual teilhaben zu lassen, werden die Oblaten in der Vorweihnachtszeit in der ganzen Welt verschickt. Schließlich soll jeder teilhaben an den guten Wünschen – in Krakau, in Bamberg, in der ganzen Welt. In diesem Sinne: Wesołych Świąt – Frohes Fest!