Über Angst und Schrecken
„What is Gothic?” Dieser Frage ging die schottische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Louise Welsh am 10. Juli nach. Auf Einladung des Lehrstuhls für Englische Literaturwissenschaft sprach die Stipendiatin der Villa Concordia über den englischen Schauerroman und seine Bedeutung in der englischen und amerikanischen Literatur und Kultur.
Das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia und die Otto-Friedrich-Universität Bamberg sind in diesem Semester gleich mehrfach erfolgreiche Kooperationen eingegangen. Sei es, dass eine Lüpertz-Statue den Innenhof An der Universität 5 ziert – oder erfolgreiche Lesungen und Kolloquien mit Rainer Merkl und der Poetikprofessorin Ulrike Draesner veranstaltet wurden. Am 10. Juli gab es nun auch eine Zusammenarbeit des Künstlerhauses mit dem Lehrstuhl für Englische Literaturwissenschaft. Dr. Anja Müller, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl, lud die schottische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Louise Welsh an die Universität zu einem Vortrag über den englischen Schauerroman. Die Autorin ist derzeit Stipendiatin der Villa Concordia, die gerade eine Reihe schottischer Künstlerinnen und Künstler beherbergt.
Welshs Kriminalromane „Dunkelkammer“ (im Original: „The Cutting Room“, 2002) und „Tamburlaine muss sterben“ („Tamburlaine must die“, 2004) wurden bislang in über zwanzig Sprachen übersetzt. Diesen Monat legt sie ihr drittes Buch unter dem Titel „The Bullet Trick“ vor. Auf deutsch wird es beim Verlag Antje Kunstmann erscheinen. Die Autorin wurde bereits mehrfach mit wichtigen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem John Creasey Memorial Dagger, dem Saltire First Book Award und der CORINE – Internationaler Buchpreis in der Kategorie Debütroman.
Über den Schrecken zum Erhabenen
„Wenn Tote keine Ruhe finden können, haben sie dafür meistens gute Gründe“, sagte Louise Welsh in ihrem Vortrag. Morde, Inzest, Vergewaltigungen oder gar Blasphemie seien die wichtigsten Ingredienzien des englischen Schauerromans, der mit Horace Walpoles „The Castle of Otranto“ (1764) seinen ersten Höhepunkt erreicht hatte. Es ist die Geschichte von Manfred, dem wollüstigen Burgherrn, der beschließt, die Verlobte seines Sohnes zu heiraten, nachdem dieser von einem vom Himmel gefallenen, überdimensionalen Helm erschlagen worden ist. „The sleep of reason produces monsters“ – unter dieser Prämisse mögen Walpole und seine Zeitgenossen geschrieben haben, behaupteten sie doch, die schauerlichen Untoten, habgierigen Aristokraten, unbefleckten Burgfräulein und tapferen Ritter ihrer Gruselgeschichten seien ihnen im Schlaf begegnet.
Louise Welsh führte auf ihrem Rundgang durch die Geschichte des Schauerromans weitere Autorinnen und Autoren und ihre poetologischen Definitionsversuche an. So unterschied Ann Radcliffe, die Autorin von „The Mysteries of Udolpho“ (1794), zwischen den Kategorien „Schrecken“ („terror“) und „Grauen“ („horror“). Grauen entstehe durch das Lesen von Darstellungen von Gräueltaten oder Gewaltakten. Schrecken hingegen werde durch Befürchtungen und die Ungewissheit über mögliche schlimme Ereignisse ausgelöst und führe den Leser so zum Erhabenen („sublime“).
Auf der Suche nach dem Erhabenen waren auch die Romantiker, welche dem Schauerroman zu andauernder Blüte verhalfen. Mary Shelleys „Frankenstein“ entstand im Sommer 1816 am Genfer See, wo die damals Neunzehnjährige mit ihrem späteren Ehemann Percy Bysshe Shelley, Lord Byron und Shelleys Leibarzt John Polidori im Urlaub war. Vom Anblick der schroffen Berge und dem unwirtlichen Wetter gleichsam stimuliert und ans Haus gefesselt, beschlossen die Romantiker, sich in einem Schreibwettkampf um die gruseligste Geschichte zu messen. Während von Byron keine Gefahr ausging (seine Geschichte blieb ein Fragment), musste Shelleys/ Frankensteins Kreatur gegen John Polidoris „The Vampyre“ antreten, der fortan zum Referenzpunkt aller Vampirgeschichten werden sollte.
Die ewig hungrigen Blutsauger haben seither, erläuterte die schottische Autorin, nicht nur in erfolgreichen Romanen wie Anne Rices „Interview with the Vampire“ (1973) eine große Leserschaft gefunden. Unzählig sind auch die Filme, in denen Vampire – die ja eigentlich gar nicht fotografiert werden können – meistens eine tragende, immer jedoch eine blutige Rolle spielen. In der Aidsliteratur der Achtziger und Neunziger Jahre wurden sie zudem zu den Vorboten und Überträgern des HIV-Virus.
Intertextuelles Spiel
Mindestens genauso ungesund wie der Umgang mit Vampiren sei es, so Welsh, mit Doppelgängern persönlich bekannt zu sein. Dies erfahren nicht nur die englischen Zeitgenossen von James Hoggs Justified Sinner, R. L. Stevensons Dr. Jekyll und Oscar Wildes Dorian Gray – auch das Werk von E.T.A. Hoffmann ist stark vom Schauerroman beeinflusst, welcher Ende des 19. Jahrhunderts an psychologischer Tiefe gewinnt.
Welsh betonte, dass „Gothic“ schon immer ein Spiel mit Intertexten gewesen sei. Mary Shelley zitiert in ihrem „Frankenstein“ „Paradise Lost“, John Miltons gereimte Version des Sündenfalls. Und das Overlook Hotel in „The Shining“ sei ebenso verflucht wie das Haus Usher in Edgar Allan Poes Kurzgeschichte. Stephen King nennt dies „neuen Wein aus alten Flaschen gießen“. Besonders attraktiv sei „Gothic“ nach wie vor für den Film. Peter Jacksons „King Kong“ erzählt – wie schon das Original aus dem Jahr 1933 – die Geschichte eines Geschöpfes, das erst durch den Ehrgeiz eines Mannes zum Monster wird, und damit eine Version des Frankenstein. Der Erfolg von Autoren wie King oder Rice und Regisseuren wie Alfred Hitchcock, dessen „Suspense“ sich freimütig beim englischen Schauerroman bediene, gehe auf Rezepte zurück, mit denen bereits vor 350 Jahre das Verlangen der Menschen nach Gänsehaut befriedigt worden ist.