Die Einsamkeit des blinden Studierenden ...

... und die Tücken des Lebens ohne Augenlicht in einer für Sehende konzipierten Welt erlebte Konrad Welzel in einem Selbstversuch (Bilder: Anna Mauser).

- Konrad Welzel

Ohne Augenlicht durch die Universität

Ein Tag im Selbstversuch als blinder Student in Bamberg

Etwa 450 blinde Studierende gibt es in Deutschland. Konrad Welzel testete in einem Selbstversuch, wie sich blinde Menschen an der Bamberger Universität zurecht finden können und mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben.

„Lass` die Leute reden und hör` ihnen nicht zu“, schallt es um kurz nach sechs Uhr aus dem Radio. Doch genau diese Worte der Band „Die Ärzte“ sollten heute nicht beherzigt werden – die Ohren werden für Konrad Welzel wichtiger denn je sein, denn er hat sich vorgenommen, einen ganzen Uni-Tag ohne seinen Gesichtssinn zu überstehen.  

Die ersten Schritte aus dem weichen Bett fallen in völliger Finsternis noch sehr zögerlich aus. Mit Händen und Füßen vorsichtig Meter für Meter vorantasten, das ist die Devise. Aber trotz der verhaltenen Bewegungskünste, gibt es nach jedem zweiten Schritt einen erneuten Stoß gegen den Fuß oder das Knie. Und dank der harten Schlafzimmertür und dem ungünstig platzierten Küchenstuhl sind die Zehen vermutlich bereits mit blauen Flecken übersät. Durch das gekippte Fenster zum Garten sind die Frühaufsteher unter den Vögeln zu hören. Sicherlich klingen die Geräusche nicht anders als an den vorherigen Tagen, dennoch dringt besonders das lebendige Gezwitscher von draußen tiefer in die Gehörgänge als sonst.

Am Esstisch zur Ruhe gekommen, können die ersten schmerzlichen Erfahrungen mit verbundenen Augen verdaut werden. Das nächste Problem lässt jedoch nicht lange auf sich warten: Wie spät ist es eigentlich? Beziehungsweise, wie viel Zeit bleibt noch bis zum Beginn der Vorlesung? Weder das Handy noch die große weiß-schwarze Bahnhofsuhr im Wohnzimmer können die Frage beantworten – zumindest nicht ohne sehen zu können. Die rettende Lösung findet sich im Schlafzimmer: der Wecker. Im Radio wird die aktuelle Uhrzeit schließlich ständig durchgegeben.

Der Toaster befindet sich glücklicherweise da, wo er immer steht und die zwei Scheiben Toast sind schnell erhitzt und gebräunt. Vorsichtig aber doch zielorientiert scheint sich die Butter beim Beschmieren mehr mit dem rechten Zeigefinger anzufreunden als mit dem Toast selbst. Auch die Apfelschorle steht zum Glück genau da, wo sie sein sollte – mitten auf dem Tisch. Mit ausgefeilter Technik ist das Glas von gestern schnell gefüllt. Der linke Daumen dient am oberen Innenrand des Glases quasi als Messstandsprüfer. Eingeschenkt wird so lange, bis der Finger feucht wird.

Die Wildnis des Alltags

Schon der erste Schritt aus der Wohnungstür lässt einen zusammenzucken. Im Rücken schnappt das Schloss laut zu. Auf der direkt vor dem Haus befindlichen Straße rauscht hupend ein Auto vorbei. Schon die Ortung, aus welcher Richtung das Fahrzeug kommt, fällt schwer. Ohne sehende Begleitung wäre das Bewegen auf offener Straße nicht nur unmöglich, sondern auch lebensgefährlich. Die Angst ist groß vor einem falschen Schritt, durch den leicht eine bedrohliche und riskante Situation entstehen könnte. Im Schneckentempo folgt also ein Fuß vorsichtig dem nächsten. Die nur 500 Meter bis zum Universitätsgebäude in der Feldkirchenstraße werden in mehr als 20 Minuten absolviert. Ein Sehender geht diese Strecke in knapp fünf Minuten.

Was sehende Studenten an der Feki wohl eher selten zu schätzen wissen, sind die breiten Gänge im gesamten Gebäude. Auch wenn man sich als Blinder in ihnen fortbewegt, spürt man ebenfalls die Weite der Flure. Fraglich ist nur, ob das auch ohne Vorkenntnisse der Fall gewesen wäre. Theoretisch liegt der Weg zur einzigen Veranstaltung des Tages klar vor dem inneren Auge. Fast ein ganzes Semester schon folgt jede Woche der gleiche Ablauf, dieselben Ecken, um die man biegt, und dieselben Treppenstufen, die zu bewältigen sind. Dennoch gibt es schon nach wenigen Metern die erste unsanfte Begegnung mit einem unbekannten Gegenstand, der scheinbar mitten im Gang platziert ist.

Interessanteste Vorlesung aller Zeiten

„Hey, was soll das?“, schellt es durch das Erdgeschoss. Wer war gemeint? „Betatscht mich da einfach von hinten!“, faucht eine weibliche Stimme entgegen und ergänzt beim Umdrehen: „Oh Entschuldigung, ich dachte, das wäre irgend so ein Spinner. Tut mir leid.“ Eingeschüchtert, erschrocken oder war es einfach nur Mitleid? Mit Erkennen der verbundenen Augen folgen auf jeden Fall gefühlte sieben Entschuldigungen, bevor sich die erste richtige Begegnung ohne Augenlicht offensichtlich schnell aus dem Staub macht.

Die Vorlesung „Positive Politische Theorie“ hat wohl schon begonnen – die Stimme des Dozenten Prof. Dr. Reinhard Zintl ist bereits von Weitem zu hören und der erste Witz ist auch schon gefallen. Eine vorher unbedachte, nun jedoch sehr große Schwierigkeit: Wo und wie ist jetzt auf die Schnelle ein freier Sitzplatz zu finden? Was folgt, ist ein vorsichtiges Herantasten an die letzten Reihen des Saals. Der Tastsinn zählt neben dem Gehör schließlich zu den wichtigsten Sinnen blinder und sehbehinderter Menschen.

Auf den umliegenden Plätzen beginnen die ersten Tuscheleien: „Was hat der denn gemacht?“, „Oh, der kann nichts sehen“ und „Der hat ja beide Augen verbunden!“ machen die Runde. Auf einmal erklingt es von der Seite: „Hallo!“. In der ersten Sekunde scheint es eine vertraute Person zu sein. Die Zuordnung einer Stimme zu einem Gesicht und einem Namen ist in dieser Situation wahrlich nicht besonders leicht. Die ersten Wortwechsel wirken etwas verkrampft. Liegt das an den verbundenen Augen oder verbirgt sich hinter der wohlklingenden Stimme doch eine unbekannte Studentin? Nach den ersten Wortfetzen bricht das Gespräch ab und die Aufmerksamkeit fällt auf den Vortrag des Dozenten – es war wohl doch keine bekannte Person. Mitschreiben von Zitaten und Aussagen ist am ersten Tag als Blinder unmöglich. Nach einigen Versuchen etwas auf dem mitgebrachten Block zu notieren, ist unklar, ob der Tisch oder das Blatt Papier als Unterlage der Kugelschreibermine dient. Richtigen Blinden hilft die von Louis Braille entwickelte Blindenschrift, die so genannte Brailleschrift, die das Lesen und Schreiben von Texten ermöglicht.

Festzuhalten ist, dass die Konzentration auf den Inhalt der Vorlesung deutlich höher als sonst ausfällt. Doch was bleibt einem auch anderes übrig, als aufzupassen und mitzudenken, wenn ein ablenkendes Beobachten der in den Reihen sitzenden Kommilitonen ohne sehende Augen unmöglich ist. Das aktuelle Skript der Stunde muss entweder von sehenden Menschen oder von einem der Sprachprogramme am Computer vorgelesen werden. An der Universität Bamberg gibt es dazu im Gebäude U5 einen speziellen Buchscanner, einen Rechner mit Braillezeile und spezieller Software zur Texterkennung.

Erkenntnis des Tages

In der warmen Nachmittagssonne im Innenhof der Feki lässt sich dieser Tag schließlich am besten Revue passieren. Wie gut das Wetter tatsächlich ist, lässt sich blind nur erahnen, aber die Sonnenstrahlen auf der Haut versprechen einen wunderschönen Sommerabend. Erneut schießen Stimmen durch den Kopf. Diesmal aus der Vergangenheit. Erinnerungen an eine Diskussion von vergangener Woche werden wach. Ein Freund war der Meinung, dass er mit Behinderten einfach nichts anfangen könne. „Brauchst du doch auch nicht, die meisten vegetieren doch sowieso nur vor sich hin und können das Leben gar nicht genießen“, konterte ein weiterer Bekannter. Abwertend und abfällig waren ihre Bemerkungen. Und nach nur einem Tag in der Rolle eines Blinden fühle ich mich durch diese Äußerungen selbst direkt angegriffen. Und mir schwirren die Zeilen von „Die Ärzte“ beim Aufstehen durch den Kopf: „Jetzt wirst du natürlich mit Verachtung bestraft, bist eine Schande für die ganze Nachbarschaft. Lass’ die Leute reden und hör` ihnen nicht zu.“