Deutschland führt im ersten Halbjahr 2007 Regie in Europa: Wird es dadurch neue Impulse gegen die Europamüdigkeit geben? (Bild: Photocase)

Der Europaexperte Martin Heidenreich (Bild: Pressestelle)

- Martin Beyer

Neue Impulse für die EU

Europaexperte Martin Heidenreich über die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007

Herr Heidenreich, 2007 übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Die Erwartungen an das größte Mitgliedsland sind im Vorfeld nicht zuletzt wegen der Verfassungskrise stark gestiegen. Zu den negativen Voten in Holland und Frankreich und einer allgemeinen Europamüdigkeit kommen die außenpolitischen Krisen in Nahost und etwa im Kongo. Das Problem der Integration der Balkanstaaten und vor allem der Türkei wird ebenfalls zu lösen sein. Gibt es einen Weg aus der Europakrise?

Ich halte die Verfassung für ein großartiges Dokument. Aber nach der Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden wird sie sicherlich nicht unverändert ratifiziert werden können. Diese Länder werden denselben Text nicht erneut zur Abstimmung stellen. Vermutlich werden deshalb die institutionellen und die symbolischen Funktionen dieses Vertrags getrennt werden müssen. Denn der Verfassungsvertrag sollte zum einen die Institutionen der EU an die gestiegene Zahl von Mitgliedern und an neue Herausforderungen anpassen. Zum anderen hatte die Verfassung eine symbolische Funktion; sie sollte die Identifikation der Bürger mit Europa erleichtern.

Gerade die Identifikation mit Europa, und das gilt genauso für Deutschland, verwandelt sich immer mehr in eine Ablehnung. Wie kann man auf diesem, zu einem guten Teil emotionalen, Feld zu einem „Europa der Bürger“ kommen?

Angesichts der weit verbreiteten Skepsis gegenüber der EU halte ich dies für eine zentrale Aufgabe und ich würde mir einen entschlossenen Beitrag Deutschlands wünschen. Eine Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass zunächst die Ursachen dieser Skepsis verstanden werden. Meines Erachtens wird die EU zunehmend als ein Liberalisierungsprojekt verstanden. 47 Prozent der Europäer sehen die Globalisierung als Bedrohung, nur 37 Prozent sehen sie als Chance. In Deutschland ist die Ablehnung noch stärker (65 Prozent zu 28 Prozent!), obwohl Deutschland und Österreich die größten Gewinner der Osterweiterung sind. Ein erheblicher Teil des Widerstands gegen die EU-Verfassung lässt sich aus Angst vor Globalisierung, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Unsicherheiten erklären.

Der zunehmende internationale Wettbewerb beunruhigt die Menschen zutiefst. Die Menschen werden mit der deutlichen Zunahme individueller und regionaler Ungleichheiten in nahezu allen EU-Ländern – vor allem in Mitteleuropa – konfrontiert. Alarmierend ist, dass von Europa bisher zu diesen Problemen gar keine Lösungen erwartet werden.

Wie könnten diese Lösungen aussehen?

Es gibt ja Ansätze, etwa die Lissabon-Strategie, die allerdings in eine Sackgasse geraten sind. Die Lissabon-Strategie zielt auf mehr Wachstum, Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt, dies wurde aber bisher durch den mangelnden politischen Willen insbesondere der Nationalstaaten weitgehend blockiert. Ich halte es für unabdingbar, die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen durch bessere Bildungs- und Weiterbildungspolitiken und durch eine bessere Gleichstellung von Männern und Frauen, jüngeren und älteren Arbeitnehmern zu fördern. Es hilft meines Erachtens nicht, solche Initiativen mit dem Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip zu Tabuthemen zu erklären. Wenn eine Modernisierung der nationalen Beschäftigungs- und Sozialordnungen nicht auch als gemeinsame europäische Aufgabe begriffen wird, erwarte ich eine massive Gefährdung des sozialen Zusammenhalts – und zwar nicht in erster Linie in den westeuropäischen, sondern vor allem in den mitteleuropäischen Ländern, in denen die sozialen und regionalen Ungleichheiten dramatisch ansteigen.

Die sozialen Unruhen, die wir vor einem Jahr in den französischen Vororten beobachtet haben, wären dann nur erste Anzeichen der bevorstehenden Integrationskrisen, die sich schon jetzt in den aktuellen politischen Entwicklungen in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei andeuten.

Und wie könnte die Verfassung Ihrer Ansicht nach „gerettet“ werden?

Dies könnte durch eine Übernahme der zentralen Regelungen aus dem ersten Teil der Verfassung erreicht werden. Das betrifft die Etablierung eines europäischen Außenministers, eines hauptamtlichen Ratspräsidenten, die Wahl des Kommissionspräsidenten, eine geringere Zahl von Kommissaren etc. Vielleicht könnte sogar die Grundrechtecharta übernommen werden. Das wäre dann weit mehr als ein „Mini-Vertrag“, wie er etwa in Frankreich als Ausweg aus der Verfassungskrise diskutiert wird. Ich befürchte allerdings, dass es keine Chancen gibt, die Verfassung als Ganzes kurzfristig und weitgehend unverändert in Kraft zu setzen.

Kommen wir zu einem anderen Kernthema: der EU-Ostpolitik. Vor welchen Herausforderungen steht hier die deutsche Ratspräsidentschaft?

Die vorgeschlagene neue europäische Ostpolitik halte ich mit Blick auf die Neuordnung der Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarn für außerordentlich wichtig. Hierbei geht es erstens um die Beziehungen zu den Balkanländern (Kroatien, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina). Hierfür ist es zentral, dass die Verfassungskrise möglichst bald gelöst wird und dass die Balkanländer eine konkretere Beitrittsperspektive erhalten.

Zweitens geht es um die Weiterentwicklung der europäischen Nachbarschaftspolitik. Das Ziel dieser Politik ist es, Staaten wie der Ukraine, Moldawien, Georgien, Aserbaidschan und Armenien neue Perspektiven für Stabilität, Sicherheit und Wohlstand zu bieten und damit einen Ring stabiler, demokratisch regierter Staaten um die EU herum zu unterstützen. Damit soll eine Alternative zu der bisherigen Erweiterungspolitik geschaffen werden: Bisher hat die EU ihr Umfeld immer durch das Versprechen der Mitgliedschaft stabilisieren können. Ich bin allerdings etwas skeptisch, ob eine solche Art der privilegierten Partnerschaft funktioniert, da viele der EU-Nachbarn weiterhin eine Mitgliedschaft in der EU anstreben werden. Anders können sie nicht die Regeln der EU mitbestimmen und an den entsprechenden Transferzahlungen teilhaben. Bis jetzt ist es der EU jedenfalls nicht gelungen, eine erfolgreiche Nachbarschaftspolitik ohne die Perspektive des EU-Beitritts zu entwickeln.

Was ist mit der Türkei?

Die EU hat aus geopolitischen Gründen ein vitales Interesse an guten Beziehungen zur Türkei. Angesichts der zahlreichen Pro-Beitritts-Beschlüsse des Europäischen Rats ist es deshalb unabdingbar, mit der Türkei fair und ergebnisoffen zu verhandeln und die Verhandlungen nicht an der Zypernkrise scheitern zu lassen. Europa sollte alles daran setzen, in Richtung der Türkei mehr positive Signale zu senden. Angesichts der Krisen im Nahen Osten und des angespannten Verhältnisses zu anderen islamischen Ländern kann die Bedeutung einer modernen, aufgeklärten Türkei nicht überschätzt werden.

Was raten Sie abschließend den deutschen Europapolitkern und speziell Kanzlerin Angela Merkel angesichts der hohen Erwartungen an Deutschland?

Deutschland ist das größte Mitgliedsland der EU, und der Rat ist – gemeinsam mit dem Parlament – praktisch der Gesetzgeber der Europäischen Union. Deshalb richten sich außerordentlich hohe Erwartungen an Deutschland – gerade weil sich die EU seit 2004, seit dem Beitritt von zehn neuen, zumeist mitteleuropäischen Ländern und der Unterzeichnung des Verfassungsvertrags grundlegend neu orientieren muss. Die EU ist auf neue Impulse angewiesen. Auch wenn die Bundeskanzlerin die sehr hohen, teilweise unrealistischen Erwartungen mit guten Gründen dämpft, hoffe ich doch, dass die deutsche Bundesregierung die damit verbundenen Gestaltungschancen nutzt und der EU vor allem in drei Punkten (Wege aus der Verfassungskrise, Wachstums-, Beschäftigungs- und Sozialpolitiken der EU, neue EU-Ostpolitik) weiterhilft. Damit kann sich Deutschland als vorwärts treibende Kraft im erweiterten Europa profilieren und einen Beitrag dazu leisten, um „Europa neu zu begründen“.

Der Bamberger Europaforscher Prof. Dr. Martin Heidenreich ist Inhaber der Jean-Monnet-Professur für Sozialwissenschaftliche Europaforschung. Zuletzt wurde er als Experte zu den „Ansbacher Gesprächen“ geladen. Die Diskussion mit Staatsminister Günter Gloser, Auswärtiges Amt, und mit dem Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Dr. Ingo Friedrich, wurde von Herrn Peter Sauer (einem Absolventen der Universität Bamberg) vom Bayerischen Rundfunk moderiert. Die Diskussion wurde am 19. November in BR-alpha ausgestrahlt.