Nicht nur Olympia! Das Spielen in all seinen Facetten ist ein zentrales Thema in Draesners Texten (Bild: Photocase)

Oliver Jahraus aus München bei seinem Vortrag - neben ihm das Maskottchen der Olympischen Spiele von 1972, der "Olympiawaldi" (Bilder: Michaela Pittroff)

Ulrike Draesner (rechts) im Gespräch mit einer Studentin

- Michaela Pittroff

Die kleinen und die großen Spiele

Abschlusskolloquium über und mit der Poetikprofessorin Ulrike Draesner

„Beziehungen: Familien – Geschlechter – Macht“ – so lautete am 12. Juli das Motto für den Abschluss der diesjährigen Poetikprofessur. Einen Tag lang wurde im Rahmen eines Kolloquiums das vielfältige Werk der Autorin Ulrike Draesner von Literaturwissenschaftlerinnen und –wissenschaftlern in Augenschein genommen.

Ulrike Draesner gehört zu den wenigen zeitgenössischen Autoren, die in mehreren Gattungen zuhause sind. Neben vier Gedicht- und zwei Erzählbänden veröffentlichte die 1962 in München geborene Wahlberlinerin in den letzten elf Jahren drei Romane, darüber hinaus Hörspiele, Übersetzungen und zahlreiche Essays. Dementsprechend abwechslungsreich gestalteten sich die Vorträge beim Abschlusskolloquium über die diesjährige Poetikprofessorin, das am 12. Juli in der Villa Concorida stattfand. 

Prof. Dr. Oliver Jahraus aus München befasste sich im ersten Vortrag der Tagung mit dem Roman „Spiele“. Die junge Heldin des Romans, Katja Berewsky, erlebt vor dem Hintergrund des Terroranschlags von München ihre persönliche Katastrophe: die neue Frau des Vaters droht die gewohnten Familienstrukturen zu zerstören. Gleichzeitig erfährt Katja eine für sie neue Wahrheit über den Tod der Mutter. Die ungelösten Familienrätsel treten vor dem Hintergrund der Katastrophe ins Blickfeld. Mehr noch: die „Katastrophe neue Frau“, wie Katja die neue Situation benennt, würde erst durch die „Katastrophe des Terrors“ verständlich, so Jahraus. Katja kann die Sphären der großen und kleinen Geschichte nicht mehr auseinanderhalten, es kommt zur Nivellierung der Unterschiede zwischen authentischer und medialer Erfahrung. Terror, Sport, aber auch die Liebe werden zu Medien der Erinnerung – einer Erinnerung und damit einer Wahrheitsfindung, die sich mehr durch Prozesshaftigkeit als durch Positionierung charakterisiert. Jahraus verwies auf die mediale Verschränkung von großer und kleiner Geschichte in Draesners Roman. Am Ende macht sich eine erwachsene Katja als Fotografin auf die Suche nach den Hintergründen des Anschlags. Die Recherche scheitert. Dafür lernt Katja einiges über die Bedingungen der Entstehung von Wahrheit. 

Auch Prof. Dr. Michael Braun aus Köln beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Verschränkung von großer und kleiner Geschichte in diesem Buch. Die Frage nach der Wertung und Verwendung von tradiertem Wissen bilde einen der zentralen Gegenstände des Romans, so Braun.

Alice, Aloe und Anita

Um eine intertextuelle Form der Verschränkung ging es im Vortrag von Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans aus Bochum, die vom Buchtitel ausgehend einen Vergleich zwischen Draesners „Spiele“ und Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“ und „Through the looking glass“ zog. Hier wie dort fungieren Spiele als Metaphernspender, hier wie dort kommt es zur Außerkraftsetzung von Spielregeln. Wie die phantastischen Figuren, denen Alice im Wunderland begegnet, eine Affinität zum Spiel haben, ließen sich auch Draesners Figuren anhand ihrer Spiele charakterisieren – vom Quälen des Hauskaters bis zum Zusammenspiel zwischen Polizei, Terroristen und Sicherheitsmedien, so Schmitz-Emans.

Um Draesners Roman „Mitgift“ und in diesem Zusammenhang um die Frage nach der Konstruiertheit von Geschlecht und der gegenseitigen Bedingtheit von Körper und Identität ging es im Vortrag von Dr. Stephanie Catani aus Bamberg. Die Problematik des Geschlechts als regulierende Norm, wie sie in den gendertheoretischen Schriften Judith Butlers und Michel Foucaults thematisiert wird, findet sich in der Geschichte der Geschwister Aloe und Anita wieder. Anita, als Hermaphrodit geboren, zum Mädchen umoperiert und erzogen, kann und will ihre angeborene zweigeschlechtliche Identität nicht verleugnen und wird so zum Prüfstein für Aloe, die sich durch den Vergleich mit der Schwester mit den Bedingungen der eigenen, scheinbar „normalen“ Weiblichkeit auseinandersetzen muss.

Der weibliche Odysseus

Zwei der Vorträge befassten sich mit Draesners Lyrik: Dr. Rolf Bernhard Essig aus Bamberg machte sich in seiner Betrachtung auf die Suche nach einem weiblichen Odysseus und fand ihn/sie in einem/r „listenreichen, abenteuerlustigen, zürnenden und wissenschaftsfrohen“ SprecherIn. Auch in Draesners Lyrik geht es um das Erinnern, nicht zuletzt, wenn sie in ihrem Band „Kugelblitz“ die Verwendung alter Wörter Neologismen vorzieht und damit auf ein archaisches Moment verweist, das sowohl in der Sprache als auch im Leser wirkt. Doch nicht nur auf der Ebene der Sprache wirkt das Gedächtnis, sondern auch auf der des Körpers, wenn der Leser die vom Dichter lesbar gemachte Körperlichkeit nachvollzieht. Leiblichkeit und Sprachlichkeit erfassen einander. Gerade in der Überblendung von Motiven wie Essen und Tod, aber auch im Einsatz verschiedenster Tierfiguren, die sich leitmotivisch durch Draesner Lyrik ziehen, kommt dieser Dualismus zum Ausdruck.

Dr. Karen Leeder aus Oxford präsentierte eine sehr textnahe Lesart und verwies ebenfalls auf einen Dualismus in Draesners Lyrik – auf jenen von Ich und Du. So verlässt im Gedicht „kugelblitz, hammondorgel“ ein „weiblicher odysseus“, von einem Kugelblitz getroffen, den eigenen Körper, um wenige Momente später, „wieder eingefahren also wiedererstanden in der küche“, zu sich, in ein gewesenes und zugleich neues „Ich“ zurückzukehren.

Im letzten Vortrag des Tages zog Prof. Dr. Friedhelm Marx, Inhaber des Bamberger Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, einen intertextuellen Vergleich und betrachtete Draesner Erzählung „Zucken und Zwinkern“ auf der Folie von Thomas Manns Novelle „Wälsungenblut“. Hier wie dort geht es um Spiele im weitesten Sinne: Die vertrauten Rituale zwischen Bruder und Schwester verdichten sich zum Inzest, sowohl in „Wälsungenblut“, als auch in „Zucken und Zwinkern“. Draesners Text sei eine postmoderne Kontrafraktur von Thomas Manns Skandalnovelle, so Marx.

Ulrike Draesner selbst war während des gesamten Tages anwesend und bereicherte Vorträge und Diskussion mit Beiträgen zu ihren Werken und zu ihrer Arbeitsweise.