Traditionelle Öffentlichkeitskonzepte werden durch die neue Internetgeneration auf den Kopf gestellt (Bild: Photocase)

Gefährlicher Kult: Krzysztof Kononowicz, rechtsradikaler Bürgermeisterkandidat in Polen (Bild: YouTube)

Jan Schmidt führt in die Tiefen des Web 2.0 (Bild: Martin Nejezchleba)

- Martin Nejezchleba

Der Kult der Selbstdarstellung

Web 2.0 und neue Formen der Öffentlichkeit

Krzysztof Kononowicz ist ein übergewichtiger Mann und trägt einen Pullover, der selbst in den 1980er Jahren als modischer Fauxpas gewertet worden wäre. Er blickt völlig überfordert in die Kamera und stottert hilflos seine Wahlversprechen herunter: „Autofahrer bestrafen für Trinken, Rauchen und – für alles“. Weltweit amüsiert sich ein breites Publikum via YouTube über den verstörten Kandidaten der Rechtsradikalen für das Bürgermeisteramt in Bialystok, eine Stadt im äußersten Nordosten Polens. Nur ein schlechter Scherz? Bedauerlicherweise nicht. Das  vom polnischen Fernsehen boykottierte Komitee „Podlachia für das 21. Jahrhundert“, für das Kononowicz kandidierte, erreichte mit dem schrulligen Auftritt eine enorme Aufmerksamkeit. Nach dem Prinzip der Gegenöffentlichkeit nutzten die Nationalisten die „uneingeschränkte Demokratie des Internets“ und erreichten mittels Trash-Propaganda ein Millionen-Publikum und Kultstatus.

Überlappung der Öffentlichkeiten

„Die neuartigen Möglichkeiten, die Web 2.0 bietet, sorgen für eine Überlappung der Öffentlichkeiten. Es lässt sich ein wechselseitiges Agenda-Setting zwischen Massenmedien und den privaten Öffentlichkeiten im Netz beobachten“, erklärt Dr. Jan Schmidt, stellvertretender Leiter der Forschungsstelle für neue Kommunikationsmedien an der Universität Bamberg. Im Rahmen der Vortragsreihe „Journalismus und Web 2.0“ referierte Schmidt am 20. November unter dem Titel „Weblogs, YouTube, Podcasts und Co. – wie sich Öffentlichkeiten im Internet verändern“.

Statt, wie im öffentlichen Diskurs oft heraufbeschworen, ein Ende des klassischen Journalismus zu prognostizieren, betonte der Kommunikationswissenschaftler die gegenseitige Einflussnahme zwischen massenmedialer Öffentlichkeit und den so genannten privaten Öffentlichkeiten auf Internetportalen wie StudiVZ, Podcast oder Flickr. Einerseits nutzen bereits viele Massenmedien die neuartigen Techniken, um zum Beispiel mittels Redaktionsblogs eine größere Nähe zum Rezipienten zu schaffen. Andererseits greifen Blogger oft Themen aus den Medien auf und diskutieren diese mit einem kleineren Publikum. Blogger bieten außerdem Links zu klassischen Medien; so besitzen rund 12.000 deutsche Blogs Links zur Onlineausgabe des „Spiegels“. Journalisten wiederum greifen Themen aus der „Blogosphäre“ auf, um diese massenmedial aufzubereiten. So sorgte der Kult um das oben genannte skurrile Wahlvideo für Medienrummel in und außerhalb Polens.

Aus Einzelhandlungen wird Öffentlichkeit

Jan Schmidt skizzierte in seinem Vortrag folgenden Mechanismus: Die Angebote von Web 2.0 werden von den Usern mit der Motivation des Identitäts- und Sozialmanagements genutzt. Mit dem Zweck der Selbst-Präsentation und der Pflege beziehungsweise dem Knüpfen von Kontakten verlassen sie durch das Schreiben eines Blogs die Sphäre des Privaten und verleihen ihren Meinungen, Problemen und Statements zumindest potenziellen Öffentlichkeitscharakter. Die Summe der unüberschaubaren Menge an Einzelhandlungen schaffe, ohne von den Handelnden selbst intendiert zu sein, private Öffentlichkeiten. Medienexperten sprechen hierbei vom „long tail“ des Öffentlichkeitsspektrums, in welchem eben jene Blogger, Podcaster und YouTuber auf ihr Publikum treffen. Eine höchst spezialisierte Öffentlichkeit, die jedoch, und das zeigt das Beispiel Kononowicz auf eindrucksvolle Weise, nicht unterschätzt werden sollte. Aufgrund der komplexen Selektionsprinzipien können Inhalte im Web 2.0 eine kaum kontrollierbare Eigendynamik entwickeln.

Die Weisheit der Masse

Eben jene Selektionsprinzipien sind laut Schmidt ein weiteres Merkmal der neuen Öffentlichkeiten. Information wird nicht mehr nach dem Gatekeeper-Prinzip der journalistischen Auswahl als relevant oder nicht relevant bewertet, sondern durch die Nutzer selbst kanalisiert. Hierbei unterscheidet Schmidt das Prinzip der „Weisheit der Masse“, also die Bewertung durch eine Vielzahl von Nutzern, von der „Weisheit des eigenen Netzwerkes“, also das individuelle Repertoire relevanter Quellen eines Users.  Neben der Überlappung der Öffentlichkeiten und den neuen Selektionsmechanismen sieht Schmidt ein drittes Merkmal der Web 2.0-Öffentlichkeit in ihrer Hierarchie. So setzen die neuen Internet-Phänomene zwar die Schwelle zur Öffentlichkeit in erheblichem Maße herab, jedoch entstehen zentrale Netzwerkknotenpunkte, die dafür sorgen, dass viele Inhalte wenig Aufmerksamkeit erhalten, während ein geringer Anteil an im Web bereitgestellten „Content“ vom Publikum überrannt wird.

Leitideen der neuen Internet-Angebote, die Jan Schmidt in seinen Forschungen ausmachen konnte, und ohne die jede noch so ehrgeizig geplante PR-Kampagne nicht die Akzeptanz der User erhält, ist die persönliche Authentizität der Inhalte. Ein Großteil der  User versteht Plattformen wie YouTube oder Podcast als dezentralisierte Gegenöffentlichkeit zu konventionellen Medienangeboten. So wird über Blogs, die sich als geplante Werbestrategie eines Unternehmens herausstellen, in der Community äußerst kritisch diskutiert. Der stotternde Bürgermeisterkandidat eines polnischen Provinznests an der Grenze zu Weißrussland wäre sicherlich nicht zum Kult geworden, wäre sein peinlicher Auftritt von vornherein als durchdachte Propaganda erkannt worden.

Vom Blog zur Chefredaktion

Eine Frau, die die von Jan Schmidt postulierte Überlappung der Öffentlichkeiten gleichsam verkörpert, wird die Vortragsreihe „Journalismus und Web 2.0“ fortführen. Katharina Borchert, frühere Bloggerin und heutige Online-Chefredakteurin der WAZ-Gruppe, wird am 5. Dezember zum Thema „Vom Print- zum Multimedium – Wandel von Medienunternehmen“ referieren, bevor am 18. Dezember Sarah Zielmann einen Vortrag mit dem Titel „Weblogs – Chancen und Risiken für die Unternehmenskommunikation“ halten wird.