Gut gelaunt trotz kontroverser Diskussionen: Richard Münch (von links), Claudia Bachmann, Martin Heidenreich und Jürgen Gerhards (Bilder: Mario Mages)
Zu den Stiften! - Die Diskussionen regten zum Mitschreiben an
Das vereinigte Europa in der Krise?
Langwierige Haushaltsreform, Erweiterungsproblematik, gescheiterte Verfassungsreferenden. Schlagwörter, die eine zentrale Frage aufwerfen: Geht der Einigungsprozess Europas weiter oder wird es einen Stillstand geben? Der Lehrstuhl für Sozialwissenschaftliche Europastudien lud zu einer Podiumsdiskussion über die Entwicklung Europas ein.
Wohin geht der Alte Kontinent? Anlässlich der Europawoche organisierte der Lehrstuhl für Sozialwissenschaftliche Europastudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 10. Mai, die Podiumsdiskussion „Quo Vadis Europa?“. Claudia Bachmann von Radio Bamberg moderierte die Veranstaltung, zu der als Diskutanten Prof. Dr. Martin Heidenreich und Prof. Dr. Richard Münch, beide Sozialwissenschaftler von der Universität Bamberg, sowie Prof. Dr. Jürgen Gerhards von der Freien Universität Berlin erschienen.
Krise kann nicht geleugnet werden
„Europa steckt in einer Krise“, so lautet die prägnante Einschätzung Jürgen Gerhards, Inhaber des Lehrstuhls für Komparative Makrosoziologie in Berlin. Als Anzeichen hierfür nannte er die gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden, die außenpolitische Handlungsunfähigkeit, die zähen Verhandlungen über eine Reform des Haushalts als auch die Frage der Erweiterung. Gerhards erläuterte weiter: „Auch wenn sich die EU im Hinblick auf ihre Geschichte von Fortschritt über Krise zu neuem Forschritt hin bewegt hat, darf man das nicht nach dem Motto deuten: Wir haben in der Vergangenheit Auswege aus Krisensituationen gefunden, wir werden auch zukünftig Lösungen finden.“ Für ihn stellt eine solche Denkweise eine reine „Narration der Selbstbeschwichtigung“ dar.
Einigungsprozess wird fortgesetzt
Optimistischer sieht Richard Münch der Zukunft des Vereinigten Europas entgegen. Seiner Ansicht nach werden die Bürger das Projekt Europa auch weiterhin tragen, weil sie ohnehin nicht so sehr in den Entscheidungsprozess eingebunden sind. Werden sie allerdings gefragt, haben sie die Möglichkeit, große Entscheidungen zu treffen, was die Ablehnung der Verfassung im Falle Frankreichs und den Niederlanden zeige. Dennoch sieht der Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie II an der Otto-Friedrich-Universität in den gescheiterten Verfassungsreferenden kein Problem: „Die EU braucht nicht unbedingt eine Verfassung. Die bisherigen Verträge und das bestehende EU-Recht stellen bereits eine De-facto-Verfassung dar.“
Keine der üblichen Krisen
Ähnlich wie Gerhards äußerte sich Martin Heidenreich, der die Professur für Sozialwissenschaftliche Europaforschung in Bamberg innehat: „Die aktuelle Krise ist mehr als eine der üblichen Krisen der EU, denn bisher ging es nur um Auseinandersetzungen zwischen nationalstaatlicher und europäischer Ebene.“ Im Gegensatz zu seinem Bamberger Kollegen Münch fürchtet er, dass dem Eliteprojekt Europa die Akzeptanz der Bevölkerung abhanden komme und somit die Erweiterungsdynamik der EU als auch die Projekte zur politischen und wirtschaftlichen Vertiefung der Union an ihre Grenzen stoßen.
Mehrere Zukunftsszenarien
Was die konkrete Zukunft Europas betrifft, so können sich die Experten unterschiedliche Szenarien vorstellen. Für Gerhards besteht die realistischste Lösung der aktuellen Problematik darin, die EU auf den Status einer Wirtschaftsunion zurückzuführen. So soll sie sich seiner Meinung nach aus einigen Politikfeldern zurückziehen und den Nationalstaaten wieder mehr Kompetenzen einräumen. In diesem Zusammenhang nannte er Handlungsfelder wie die Dienstleistungsrichtlinie und die Freizügigkeitsregelung für Personen, die die Bürger direkt tangieren, aber zugleich von den Bürgern nicht akzeptiert werden. Anders sieht das Heidenreich: „Nationalstaaten sind für manche Aufgaben schlichtweg zu klein, man denke hier beispielsweise an die Sicherheits- oder Energiepolitik.“ Für ihn ist die Fortführung des politischen Integrationsprozesses jedoch nur dann möglich, wenn sich die EU stärker als bisher mit sozial-, beschäftigungs- und gesellschaftspolitischen Fragen auseinander setze. Einen Wandel der Solidaritätsstrukturen hält hingegen Münch für wahrscheinlich. So wird die nationale Solidarität der Bevölkerung immer mehr von transnationaler Solidarität verdrängt werden. Münch prognostiziert: „Der Prozess, der durch wirtschaftliche und rechtliche Integration vorangebracht wird, läuft weiter.“