Der einsame Held in New York - hier beginnt die Geschichte von "Woraus wir gemacht sind" (Bild: pazzzaa/photocase).

Thomas Hettche las aus seinem Roman, der Elemente aus Roadmovies und Krimis mit philosophischen Betrachtungen mischt (Bild: Elisabeth von Sydow).

- Elisabeth von Sydow

Auf philosophischer Kriminalreise

Thomas Hettche las aus seinem Roman „Woraus wir gemacht sind“

Seit 1977 hat die Reihe „Literatur in der Universität“ einen festen Platz an der Otto-Friedrich-Universität. Im Sommersemester 2009 machte der Schriftsteller Thomas Hettche den Anfang. Am 29. April zeigte er dem Publikum, aus welchem Stoff wir gemacht sind ...

Thomas Hettche ist einer der spannendsten und experimentierfreudigsten Schriftsteller der Gegenwartsliteratur. Er hat Philosophie und Literaturwissenschaften in Frankfurt am Main studiert, schrieb als freier Schriftsteller und Journalist für namhafte Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Neue Züricher Zeitung. Unter anderem ist er Preisträger des Rauriser Literaturpreises (1990) oder des Robert-Walser-Preises (1990) und 2006 stand Hettche mit seinem Roman „Woraus wir gemacht sind“ im Finale des Deutschen Buchpreises. Aus eben diesem Werk las Hettche am 29. April an der Universität Bamberg und nahm die Zuschauer mit auf eine philosophische Kriminalreise.

Ein Roman des Verharrens

„Woraus wir gemacht sind“ wird von Hettche selbst als eine Art Roadmovie über das Amerika des 21. Jahrhunderts beschrieben. Die Geschichte spielt vor der Kulisse New Yorks, am Jahrestag der Anschläge vom 11. September und unmittelbar vor dem Ausbruch des Irakkriegs. Im September 2002 kommt der unscheinbare, beinahe durchsichtige Biograf Niklas Kalf mit seiner schwangeren Frau Liz in die USA, um für eine Biografie über den in die USA geflüchteten deutsch-jüdischen Physiker Eugen Meerkaz zu recherchieren.

Doch plötzlich ist Kalfs Frau spurlos verschwunden. Kalf erhält schließlich die Mitteilung, dass er ganz bestimmte Informationen über Meerkaz liefern soll oder er würde seine Frau nie wieder sehen. Dadurch wird der Biograf unerwartet in seine eigene Lebensgeschichte geworfen und zum Handeln gezwungen.

Hettche setzte in seiner Lesung an der Stelle ein, wo Kalf bereits auf dem Weg nach El Paso in Texas ist, in der Hoffnung dort weitere Hinweise auf den Verbleib seiner Frau zu finden. Doch schnell wird dem Leser klar, dass Kalf eine hilflose Person ist, der sein eigenes Leben nicht in den Griff bekommt.

„Er hat nichts zu tun, außer dass die Zeit vergeht“

Anstatt wie ein Wahnsinniger zu recherchieren, um seine schwangere Frau wieder zu finden, gerät er in einen Zustand des Verharrens. Ohne, dass es Kalf wirklich bemerkt, schwinden die Wochen dahin und er kommt keinen Schritt weiter. Stattdessen beginnt Kalf mit dem Abgleich zwischen dem, was er vor sich sieht, und dem, was er aus Film und Fernsehen kennt.

Es wir immer offensichtlicher, dass Hettches Protagonist dem viel beschworenen amerikanische Traum verfallen ist. Besonders fasziniert ist er von den alten Hollywood-Klassikern, die im Buch ausgiebig zitiert werden. Diese Faszination geht so weit, dass sie schließlich in einer Art Besessenheit endet. Kalf glaubt in den Gangstern, denen er in dem öden texanischen Grenzort Marfa begegnet, die schillernden Hollywoodstars Robert Duvall oder Al Pacino zu erkennen.

Hollywood in Texas

Wie Burroughs schaut der Typ aus, nein, wie Henry Fonda oder doch wie Robert Duvall? Der Alte an der Tankstelle in Marfa erscheint Kalf als leibhaftige Verkörperung von Hollywoods harten Kerlen – von Al Pacino, De Niro bis hin zu dem Marlboro-Mann. Kalf verliert gänzlich den Blick für die Realität und sein eigentliches Ziel, seine schwangere Frau Liz wieder zu finden, entschwindet ihm immer mehr. 

An einer der wohl spannendsten Stellen im Roman beendete Hettche die Lesung. Der Rezipient ist nun geneigt zu fragen, wie es weitergeht. Ob Kalf sich aus seinem Sumpf des Nichtstuns herausziehen kann, ob er seine Frau wieder findet und vor allem, ob die Frage „Woraus wir gemacht sind?“ beantwortet wird.

Um das herauszufinden, sollte man sich die Zeit nehmen und dieses Werk, das irgendwo zwischen Krimi, Roadmovie, Hollywoodklassiker und Philosophie hin- und herwandert, genau lesen. Denn der Roman schickt nicht nur seinen Helden auf eine Reise, die ihn an seine Grenzen kommen lässt, sondern zieht auch den Leser mit in eine seltsame Stimmung des Verharrens.