Europa ist das, was wir daraus machen

Ein Magazin über den Facettenreichtum einer großen Idee

Von Martin Beyer

Trotz aller Krisensymptome schlägt der Puls Europas noch immer stark und regelmäßig. In den europäischen Städten gehen tausende Menschen auf die Straße, um Europa zu verteidigen. Aber stehen diese Menschen für dasselbe ein? Was macht Europa aus und wie wird es gemacht? Und von wem? Diese Ausgabe von uni.vers beleuchtet verschiedene Facetten der europäischen Idee, untersucht ihre Geschichte und ihre aktuelle Situation.

Welches Europa wollen wir sein? Diese Frage mag zunächst irritieren. Haben wir denn eine Wahl? Die unterschiedlichen Perspektiven auf das Konstrukt ‚Europa‘ in diesem Heft belegen eindrucksvoll, dass Europa nichts Naturgegebenes ist. Seine Wurzeln reichen bis in den alten Orient zurück, wie Sabine Vogt in ihrem Beitrag „Was der Okzident dem Orient verdankt –  Über die Anfänge Europas im antiken Griechenland“ nachweist. Seit diesen frühen Anfängen hat Europa sein Gesicht immer wieder verändert. Für viele ist es noch immer die Idee eines Völkerbundes, der für Frieden und offene Grenzen steht; gleichzeitig ist Europa eine Militär- und Wirtschaftsmacht. Europa bedeutet Frieden; historisch gesehen aber auch häufig: Krieg. Verschiedene, teilweise konträre Definitionen und Diskurse stehen sich gegenüber, Europa wird geliebt und gleichzeitig vehement abgelehnt. Dieses Heft ermöglicht wertvolle Blicke hinter die europäischen Kulissen – denn viele der beschriebenen Aspekte sind nicht Bestandteil alltäglicher Debatten. Im historischen Teil geht es nach der Erkundung der europäischen Anfänge um das Lateinische als, wie Markus Schauer in seinem Beitrag „Latein – die Sprache Europas? – Hommage an eine totgesagte quicklebendige Weltsprache“ schreibt, die ‚europäischste‘ Sprache, die vor allem in Zeiten der Kleinstaaterei als verbindendes Element, als Bildungssprache Bedeutung hatte und noch immer hat. Andreas Flurschütz da Cruz thematisiert in „Europas geliehene Heere – Die Internationalisierung von Sicherheit und Gewalt im 17. und 18. Jahrhundert“ die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach dessen Ende ein Machtvakuum entstand, das findige Fürsten zu nutzen wussten. Sie hielten sich Berufsarmeen und verliehen ihre Soldaten an andere Machthaber, wodurch sich ihr Einfluss vergrößerte.

Europa zwischen Liebe und populistischer Abneigung

Dann der Sprung in die Gegenwart: Ariadna Ripoll Servent äußert sich in dem Interview „Man kann nicht an einem Tag einen Europäer erschaffen“ zu aktuellen europäischen Konflikten und Entscheidungsprozessen. Sie macht deutlich, dass es eine hohe Erwartungshaltung gegenüber der EU als Problemlöser gibt – und dass allzu schnell nationale Konflikte auf die europäische Ebene verschoben werden. Dass aus soziologischer Perspektive die Einflussmöglichkeiten der EU als genuin wirtschaftlicher Zweckverband auf drängende Fragen wie Jugendarbeitslosigkeit verkannt werden, macht Elmar Rieger in dem Artikel „Kann, soll, muss man Europa lieben? – Über die Krise der Europäischen Union aus soziologischer Perspektive“ deutlich – und erklärt gleichzeitig das Aufkommen des neuen europafeindlichen Nationalismus, der seine Kraft aus der sozialen Enttäuschung vieler Menschen gewinnt. Wenn dieser neue Nationalismus überhaupt wissenschaftlich unterfüttert wird, dann wird häufig auf die sogenannte dritte demografische Transition zurückgegriffen, die belegen soll, dass Europa durch Migrationsbewegungen „überfremdet“ wird. Dass diese These kaum haltbar ist, Migration im Gegenteil starke positive Effekte erzeugt, zeigt der Beitrag  „Migration nach Europa – Die umstrittene These der dritten demographischen Transition“ von Daniel Göler, Bernhard Köppen und Stefan Bloßfeld. Weiter gedacht: Wie werden die Geflüchteten politisch vertreten, wenn sie in einem europäischen Land angekommen sind? Sind sie Bürger erster oder zweiter Klasse? Diesen Fragen gehen Thomas Saalfeld und Lucas Geese in  „Bürger erster Klasse? – Die politische Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in der EU“ nach und stellen mit pathways ein aktuelles Forschungsprojekt vor.

Europa kulturell und als Wirtschaftsraum

Europa wird auch zwischen Buchdeckeln und auf Theaterbühnen gemacht. Ein weiterer Artikel berichtet von einem Kooperationsseminar zwischen dem ETA Hoffmann Theater und der Bamberger Germanistik, in dem Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur verortet und diskutiert wurden. Vor allem das Stück „europa verteidigen“ von Konstantin Küspert stand hier im Mittelpunkt – der Autor des Stückes war im Seminar anwesend und stellte sich den Diskussionen. Universitäten stehen untereinander in einem Austausch – europaweit, weltweit. Das hat eine lange Tradition, nach den großen Hochschulreformen sind sie aber auch Konkurrenten um Studierendenzahlen, Exzellenzkriterien und Drittmittel. Stefan Okruch und Jörg Dötsch hinterfragen in „Die Vermessung des Wandels – Die europäische Hochschullandschaft zwischen Brüssel und Bologna“, ob die Bologna-Reform der europäischen Idee nützt oder schadet. Europa ist schließlich ein bedeutender Wirtschaftsraum. Aber kann er schritthalten mit den aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen wie Digitalisierung oder Industrie 4.0? Björn Ivens und Alexander Leischnig untersuchen in einem europäischen Forschungsverbund, welche Denkmuster Firmen oftmals im Wege stehen, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Dies erklären sie in ihrem Beitrag „Europa im Wettlauf um neue digitale Geschäftsmodelle – Welche Denkmuster bremsen europäische Unternehmen im digitalen Wandel aus?“Welches Europa wollen wir also sein? Die Beiträge in diesem Heft lassen erkennen, dass Europa letztlich das ist, was wir daraus machen. Es ist nichts Festgeschriebenes, es ist ein Prozess. Ein Prozess, an dem es sich lohnt weiterzuarbeiten und weiterzudenken.