Wie man ihn kennt: Heinz Gockel energisch am Mikrofon in der AULA der Universität (Bild: Monica Fröhlich)

Eine Ikone der Germanistik: Walter Müller-Seidel (Bild: Martin Beyer)

- Konstantin Klein

Tabula rasa im kulturellen Gedächtnis

In seiner Abschiedsvorlesung wagte Heinz Gockel ein Gedankenexperiment

Was würde uns fehlen, wenn es keine Literatur gäbe? Dieser Frage ging Heinz Gockel in seiner Abschiedsvorlesung am 26. Juli in der AULA der Universität nach. Die Antworten des Literaturwissenschaftlers stimmten nachdenklich.

Das fortschreitende Alter bringt bekanntlich so unangenehme Begleiterscheinungen wie Starrsinn und Zahnausfall mit sich. So erwartet man für gewöhnlich auch nicht, Abschiedsvorlesungen mit hoher Bisskraft auf dem universitären Tablett serviert zu bekommen. Als aber am 26. Juli der Bamberger Germanist Prof. Dr. Heinz Gockel zu eben einer solchen – seiner – einlud, präsentierte er seinen Kolleginnen und Kollegen, Schülern und Freunden einen Abschied wahrlich ohne Alterserscheinungen.

Nach den offiziellen Begrüßungsworten durch Prof. Dr. Christoph Houswitschka, Dekan der Fakultät Sprach- und Literaturwissenschaften, in Vertretung der nicht anwesenden Universitätsleitung – lobte der Bamberger Literaturwissenschaftler Hans-Peter Ecker in einer unkonventionell humoristischen Ansprache seinen Fachkollegen Heinz Gockel. Der zeigte sich davon und von der bis weit über den letzten Platz gefüllten AULA der Universität sichtlich gerührt: „Dass so viele kommen, wenn ich gehe...“

Ein Universalgelehrter in geistfernen Zeiten

An die Otto-Friedrich-Universität gekommen ist Gockel 1979, und er wusste sogleich, dass dies eine Entscheidung für sein ganzes Leben sein würde: „Was will ich mit C4 in Gießen, wenn ich C2 in Bamberg haben kann“, scherzte Heinz Gockel, ohne dabei unerwähnt zu lassen, dass seine C2-Professur zwar im Laufe der Zeit zu C3 aufgewertet wurde, er selbst sich jedoch auf diese Stelle nicht bewerben konnte. Harte Worte verlor er über nicht immer nachvollziehbare Entscheidungen der Universität – aber auch der Bildungspolitik generell: „Wir leben in geistfernen Zeiten“, mahnte er an.

Aus der Germanistik ist Heinz Gockel nur schwer wegzudenken: Mit Arbeiten zur Literatur der Aufklärung, Klassik und Romantik, zu Max Frisch und vor allem zu Thomas Mann bereichert der Literaturwissenschaftler den wissenschaftlichen Diskurs von der Universität Bamberg aus. Heinz Gockel studierte Germanistik, Philosophie und Theologie in Freiburg und Münster, wo er sich 1971 mit einer Arbeit über Lichtenbergs Aphorismen promovierte und 1979 mit einer Arbeit zum Mythosbegriff der Neuzeit die Venia legendi erhielt.

Vergessenes Schneewittchen

In der Tradition von Christa Wolfs Essay „Lesen und Schreiben“ (1972) wagte Heinz Gockel in seinem Vortrag „Wozu Literatur?“ ein Gedankenexperiment: „Eine Kraft, nicht näher zu bestimmen, lösche durch Zauberschlag jede Spur in den Leserinnen und Lesern aus, die sich durch Lesen eingegraben hat“, so Gockel, der sogleich Überlegungen anstellte, wie sich solch eine Welt gestalten könnte: „Die Erinnerung an das makellose, unschuldig leidende Schneewittchen und die böse Stiefmutter wäre ausgelöscht“, so Gockel. Auch Siegfried und sein Drache wären wie die Tierfabeln eines Äsop vergessen: „Niemand wüsste, was ‚listig wie ein Fuchs’ oder ‚mutig wie ein Löwe’ heißt“, so der Germanistikprofessor. Unser Bilder- und Geschichtenrepertoire, denn das sei die sich immer wieder selbst zitierende Literatur, wäre erheblich ärmer. Die Bezüge von Kleists Dorfrichter Adam in „Der zerbrochene Krug“ zum Sündenfall der Genesis ließen sich nicht mehr herstellen. Auffallen würde das freilich nicht, denn wir würden weder diesen lüsternen Richter noch jenen ersten Menschen der Bibel kennen. „Nie wäre eine Stadt mit dem Namen Troja um einer Frau willen bestürmt worden“, beendete Heinz Gockel seinen Rundgang durch die Weltliteratur. Was würde den Menschen fehlen: „Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten“, so Heinz Gockel. Nicht nur um die Literatur wäre die Welt ärmer. Ihr Fehlen würde eine Vielzahl an Lebensmustern und menschlichen Erfahrungen absent erscheinen lassen.

Literatur sei ein Spiel mit dem Möglichen, beteuerte der Literaturwissenschaftler und zitierte darauf ein Gedicht der in der AULA anwesenden Doris Runge. Auch das Lesevergnügen würde fehlen, doch vor allem sei „so etwas wie Heimatlosigkeit und Ortlosigkeit die Folge, ganz zu schweigen davon, dass unsere Phantasie verkümmerte“, schlussfolgerte Heinz Gockel.

Abschiedskolloquium im Zeichen der Ästhetik

Dass Literatur sehr wohl in unserem Leben präsent ist, das demonstrierten dem Literaturwissenschaftler eine Vielzahl von Freunden und Schülern an den Folgetagen: Dr. Julia Schöll, eine ehemalige Doktorandin, lud zu einem zweitägigen Abschiedskolloquium mit dem Titel „Die Aktualität des Ästhetischen“. Diese Veranstaltung wurde zu einem Treffen der Generationen. Den Eröffnungsvortrag über den Tyrannenmord in Schillers Werken hielt mit Walter Müller-Seidel eine „Ikone der Germanistik“, wie Julia Schöll betonte. Der 1918 geborene Germanist vertrat die Lehrergeneration, denn er war auch der Doktorvater des bereits emeritierten Bamberger Professors für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Wulf Segebrecht. Zu den Vortragenden gehörten unter anderen Prof. Dr. Thomas Anz aus Marburg, der Autor, Übersetzer und Ehrendoktor der Universität Bamberg Hans Wollschläger, die Verlegerin Petra Kiedaisch und einige jüngere Schülerinnen und Schüler Gockels. Die Lyrikerin Doris Runge aus Cismar las im Rahmen des Kolloquiums aus ihren Werken. Auch diese Veranstaltung dürfe Heinz Gockel also vor Augen geführt haben, dass er, wie Walter Müller-Seidel meinte, „den schönsten Beruf der Welt“ ausüben durfte. Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass er der Bamberger Universität trotz offiziellem Abschied noch eine ganze Weile erhalten bleibt.