Friedhelm Marx freute sich, Peter Stamm in Bamberg begrüßen zu dürfen (Fotos: Carolin Regler).

Nach der Lesung blieb noch Zeit für Autogramme...

... und einen kleinen Plausch.

- Carolin Regler

„Nachtseiten des Gefühlslebens“

Lesung mit dem Schweizer Schriftsteller Peter Stamm

Bamberger Altstadtzauber und Weltkulturerbe-Romantik? Nichts für den Schweizer Autor Peter Stamm. „Das ist mir alles zu schön, das kann ich nicht aushalten. Ich gehe lieber in Außenviertel und schaue mir die Plattenbauten an.“ Trotzdem hat der Schriftsteller am 12. Januar 2010 in der Bamberger Innenstadt Halt gemacht, um aus seinem aktuellen und bislang vierten Roman „Sieben Jahre“ zu lesen. Der Protagonist und Ich-Erzähler Alex führt ein scheinbar perfektes Leben. Er ist Architekt und leitet mit seiner schönen (und deutlich talentierteren) Ehefrau Sonja ein Architekturbüro in München. Sonja ist begehrenswert und kultiviert; ihr Lebenstraum ist es, Gebäude für den sozialen Wohnungsbau zu entwerfen. Kurz nach Ende ihres Studiums wurden die beiden ein Paar und legten das Fundament für eine äußerlich vorbildliche, aber leidenschaftslose Lebensgemeinschaft.

Die Macht der Liebe

Doch vor der kühlen Sonja, einer „wunderschönen Eisprinzessin“, so Prof. Dr. Friedhelm Marx in seiner Einführung, gab es bereits eine andere Frau in Alex’ Leben. Es ist die reizlose und langweilige Polin Iwona, zu der sich Alex immer noch hingezogen fühlt. Alex entscheidet sich schließlich für ein Leben mit Sonja, wird aber nie wirklich glücklich. Als er Iwona Jahre später zufällig wieder begegnet, nimmt er seine sexuelle Beziehung zu ihr wieder auf.

Eine Zuhörerin äußerte nach der Lesung den Eindruck, dass Stamm bei der Beschreibung der Figur „Iwona“ geradezu in Hässlichkeit geschwelgt habe. Dieser bekannte sich daraufhin zu einer „Freude am Nichtästhetischen in unserer überästhetisierten Welt“ und erzählte, dass er nicht nur gerne Plattenbauten betrachte, sondern für seinen Roman auch hässliche Menschen auf der Straße beobachten wollte. Allerdings habe er entdeckt, dass Hässlichkeit für ihn eher ein Charakterzug sei, genauer gesagt eine „Lieblosigkeit gegen sich selbst“. Folgerichtig heißt es auch über Iwona: „Ihre Haltung war verkrampft, dabei hatte ihre ganze Erscheinung etwas Lasches, Kraftloses. Sie sah aus wie jemand, der jede Hoffnung aufgegeben hat, irgendwem zu gefallen, und sei es sich selbst.“ Alex versteht selbst nicht, weshalb er ausgerechnet wegen Iwona seine Ehe aufs Spiel setzt. Vielleicht reizt die Macht, die er in dieser ungleichen Beziehung hat, denn Iwona liebt Alex bedingungslos. Ihm ist sie dagegen völlig gleichgültig – behauptet er zumindest.

Peter Stamm glaubt als Verfechter des freien Willens nicht, dass sein Protagonist von seinen Trieben determiniert wird. „Wir können uns frei entscheiden – aber für Literatur ist es eben spannender, wenn man sich falsch entscheidet…“ kommentierte er nach der Lesung mit einem spitzbübischen Lächeln. An dieser Dreiecksgeschichte, in der auch noch die ungewollte Kinderlosigkeit Sonjas und die versehentliche Schwangerschaft Iwonas für Verwicklungen sorgen, interessieren den Schweizer daher besonders die „Nachtseiten des Gefühlslebens“ (DIE ZEIT, 13.08.2009) und die Frage, in welchem Verhältnis Liebe und Macht zueinander stehen.

Interesse an der menschlichen Psyche

Peter Stamms Schreibschule, erklärte Friedhelm Marx, sei Lebenserfahrung gewesen. Der Schriftsteller wurde 1963 geboren und studierte nach einer kaufmännischen Lehre einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie, bevor er sich nach längeren Auslandsaufenthalten als freier Autor und Journalist in Winterthur niederließ. Um problematische Beziehungen und Identitätskonflikte ging es bereits in Stamms Debütroman „Agnes“ aus dem Jahr 1998. Neben Romanen und Erzählungen veröffentlichte der Autor Hörspiele und verfasste Kinderbücher, Drehbücher, Werbetexte sowie journalistische Artikel. „Agnes“ wurde kürzlich in Baden-Württemberg zum Abiturpflichtstoff erhoben, was in den Augen von Prof. Friedhelm Marx einen „ganz wunderbaren Zwang“ darstellt. Doch auch die Zuhörer, die ganz zwanglos Peter Stamms Lesung aus „Sieben Jahre“ gelauscht haben, dürften genug Stoff zum Nachdenken über Liebes- und Lebensglück mit nach Hause genommen haben.