Die schwarze Seite am Ende des Romans als Herausforderung für den Leser - und Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Marco Kunz.

- Michael Kerler

Finis oder Das Ende als Herausforderung

Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Marco Kunz – Untersuchungen zum Ende des Romans

Seit dem Sommersemester 2005 hat Professor Marco Kunz die Professur für Romanische Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Hispanistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg inne. Vier Jahre lang war die Stelle unbesetzt, nachdem Professor Dr. Gerhard Penzkofer einen Ruf nach Würzburg annahm. Professor Sebastian Kempgen, Dekan der Fakultät Sprach- und Literaturwissenschaften, erklärte in seiner Begrüßungsrede die lange Vakanz damit, dass man die Stelle zielgerichtet habe vergeben wollen.

Kunz' Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der modernen spanischen und lateinamerikanischen Erzählliteratur. Der 41-Jährige hat seine Artikel und fünf Monographien dabei meist in spanischer Sprache verfasst. In seiner Lehre möchte der in Basel geborene Schweizer auch Theater und Lyrik des spanischsprachigen Raumes abdecken. Er ergänzt damit seine Kollegen Dina De Rentiis und Albert Gier, die sich auf die Literatur und Sprache Italiens und Frankreichs konzentrieren. Über 70 Zuhörer hießen Kunz bei der Antrittsvorlesung und dem Empfang danach willkommen. In der Vorlesung beschäftigte sich Kunz mit dem „Ende des Romans.“

In Cervantes’ "Don Quijote" hängt der Erzähler am Ende des Romans die Feder an den Haken, deren Tinte soeben versiegt ist. Mit einem „Lebe Wohl!“ bricht die Kommunikation mit dem Leser endgültig ab. Viele Autoren, so verdeutlichte Professor Kunz, verweigern ihrem Publikum heute ein derart definitives Ende. Ein Beispiel bietet der Roman „Die Ratte“ des Polen Andrzej Zaniewski. Nach der Schilderung ihres Lebens zieht sich das Tier in seine Höhle zurück um zu sterben. Es tritt einem hellen Licht entgegen, letzte Gedanken jagen ihm durch den Kopf: „Welch herrlicher Augenblick ... welch herrlicher Augenblick, welch ...“  Damit endet das Leben des Tieres, und damit auch die Erzählung. Sprachlich aber ist der letzte Satz unvollständig, die Absolutheit des Endes wird aufgebrochen.

"Nullastro, nullello nullazo..."

Wie Andrzej Zaniewski legen viele Autoren ihr Augenmerk am Ende ihrer Bücher nicht nur auf die Handlung, sondern auch auf die Sprache, argumentierte Kunz. Ein Beispiel sei der Roman „Polonia“ des Italieners Nicolò Ferjancic. Er konfrontiert den Leser mit Variationen über das Wort „nulla“ – nichts. „Nullastro, nullello, nullazo … nullonìco, nullonic, nulljancic.” In den letzten Wörtern bezieht der Autor seinen Namen in die Variation mit ein. Nicht mehr die Handlung ist hier von Bedeutung, sondern ein kreatives, avantgardistisches Spiel mit der Sprache.

Bisweilen lassen Romane ihre Leser komplett verständnislos zurück. Im Buch „Juan sin Tiera“ des Spaniers Juan Goytisolo nomadisiert der Protagonist, Johann ohne Land, zwischen verschiedenen Kulturen. Die Sprache vollzieht die Reise nach: Vom korrekten Schriftspanisch verfällt sie zuerst in Andalusisch, dann in ein marokkanisches Arabisch. Zuletzt geht der Text in arabische Schrift über. Dem Leser wird die Türe vor der Nase zugeschlagen. Wer nicht Arabisch kann, vollzieht die Erfahrung der Fremde und des Unverständnisses zum Schluss selbst nach.

Verdichtung ins Schwarze

Ist die klassische Form des Romans damit endgültig am Ende? Hat der Anti-Roman den Roman zerstört? Professor Marco Kunz lud seine Zuhörern ein, die Auflösung der Form am Romanende nicht als Verlust, sondern als Gewinn zu begreifen: In der alten Form liefen am Ende die Handlungsstränge zusammen, in den neuen Formen bieten die Enden Potential für neue Ideen. In „Johann ohne Land“ beispielsweise würde der Leser eingeladen, Arabisch zu lernen.
Mit am rabiatesten greift der Roman „Larva – Babel einer Johannisnacht“ des Spaniers Julián Ríos auf das Mittel des abrupten, alle Fragen offen lassenden Endes zurück. Alles, was der Leser auf der letzten Seite entdeckt, ist ein großes schwarzes Rechteck (■). Wird der Leser hier bewusst verschreckt? Indem man ihn mit Sinnlosigkeit und Sinnleere konfrontiert? Überrascht und skeptisch blickten auf jeden Fall die Zuhörer der Vorlesung auf die Seite, die Kunz per Tageslichtprojektor präsentierte. Dem Leser des Buches jedoch, erklärte der Hispanist, bietet sich das Rechteck als vor Aussagen strotzender und vor Kreativität überquellender „Text“ dar.

Dem Autor gelingt dieses Kunststück, indem er seinen Leser über mehrere hundert Seiten darauf vorbereitet. Das Buch steckt voll Wortspiele zum Thema Finsternis und Ende, Dunkelheit und Schwärze. Und gleichzeitig wird erzählt, wie sich Dunkelheit in Licht verwandeln kann oder dass es kein Ende gebe. So wird der Leser eingeladen, vom Wort „Finsternis“ das „Ende – fin-is“ (aus dem spanischen „fin“ und der Nachsilbe „is“) wegzulassen, so dass in der Wortmitte ein „Stern“ aufleuchtet.
„Durch seine Wortspielen, Assoziationen und Gedanken füllt Ríos das schwarze Rechteck mit Sinn“, so Kunz. Das Quadrat wird zur geronnenen, verdichteten Aussage des Textes. „Das schwarze Quadrat ist also kein Grund schwarz zu sehen. Es stellt keinen endgültigen Schluss dar, sondern einen Neuanfang.“ Ähnlich dürfe man die experimentellen, avantgardistischen Enden der Romane nicht als Ende der Romangattung begreifen, sondern als neue Form, als Phoenix aus der Asche.