Nach einem spannenden Vortrag haben Christa Jansohn (links) und Catherine Belsey gut lachen (Bild: Lina Muzur)
Fantasie: Werkzeug zum Überleben oder Antrieb von Kultur?
Ist die menschliche Fantasie nur ein genetisches Programm, um das Überleben zu gewährleisten? Catherine Belsey von der Swansey Universität in Wales berichtete in ihrem Vortrag über die Fehden, welche Natur- und Geisteswissenschaftler über die Bedeutung der Fantasie austragen.
Der Dualismus von Körper und Geist ist ein Grundthema der Metaphysik, der Philosophie und der Theologie. Doch auch die Naturwissenschaften mischen sich ein: Biologen, Neurobiologen und Evolutionspsychologen möchten die Vorstellung von einem vom Körper unabhängigen Geist als Determinante der menschlichen Natur widerlegen. Das denkende und fühlende Bewusstsein sei nichts weiter als Aktion und Interaktion von Neuronen. Wir werden vom genetisch vorprogrammierten primären Trieb des Überlebens geleitet. An die Stelle von Gott soll eine natürliche Selektion treten. Doch wie lässt sich diese wissenschaftliche Sicht auf den Menschen mit der Kultur, die er schafft, vereinbaren?
Die Frage nach der prekären Schnittstelle von biologischer und kultureller Wirklichkeit stand im Mittelpunkt des Vortrags der Kulturwissenschaftlerin Prof. Catherine Belsey (Swansea University, Wales), der am 23. Mai unter dem Titel „Biology and Culture: The Role of Imagination“ im Rahmen der von Prof. Christa Jansohn veranstalteten Reihe „Centre for British Studies (CBS) Talks“ stattfand. Den gut besuchten Vortrag gestaltete die Gastrednerin humorvoll und lebendig, sie war sichtlich um einen Dialog mit den Studierenden bemüht.
Belsey hat sich mit einschlägigen Neuerscheinungen der Kognitionswissenschaften und Neurobiologie auseinandergesetzt. Sie sieht die aktuellen Trends auf diesem Gebiet als bedeutend und faszinierend an und plädiert für eine Kooperation von Kultur- und Naturwissenschaftlern, denn „Kultur und Biologie beeinflussen sich gegenseitig“, so Belsey. Ein Ansatz, der kulturelle Äußerungen ausschließlich auf biologische Faktoren zurückführt, gehe fehl, wie biologische Ideologien der Vergangenheit beweisen.
Welchen Zweck erfüllt Fantasie?
Das Bewusstsein etwa arbeite einerseits in Abhängigkeit vom Körper, andererseits sei es selbst unabdingbar für die physische Existenz des Menschen, erläuterte Belsey. Die Referentin untersuchte speziell die Vorstellungskraft als Bestandteil des menschlichen Bewusstseins. Vom Standpunkt des Naturwissenschaftlers aus betrachtet ist der Blick für das Schöne lediglich dem Fortpflanzungstrieb nützlich, Religiosität nur dem Drang, der stärksten Gruppe anzugehören. Die menschliche Vorstellungsgabe wäre, folgt man dieser Argumentation, ebenfalls ein Werkzeug, das dem Menschen des Überlebens wegen gegeben ist. Und tatsächlich, eine ganze Reihe von Zweckmäßigkeiten des Phänomens „Fantasie“ ließe sich benennen: Sie bewirkt, dass wir mit anderen Menschen mitfühlen, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erreichen und Konflikte zu vermeiden; sie lässt uns in unvorhergesehenen Gefahrlagen improvisieren; sie ist die Antriebskraft von „Paarbildung“; ohne sie wären sexuelle Beziehungen schier unmöglich. Auch die Entwicklung verfeinerter Arbeitsmethoden und neuer Technologien wurzelt in ihr.
Fantasie und Literatur
Bestimmend ist die Rolle der Fantasie in der Literatur. Doch auch bezogen auf das Kunstschaffen lässt sich der kognitionswissenschaftliche Ansatz durchaus anwenden. Belsey verwies darauf, dass in narrativen Texten soziale und moralische Werte propagiert, vorbildhafte Liebesbeziehungen inszeniert und mögliche Gefahren benannt werden. Zugleich machte sie aber deutlich: Wenn die unrealistische Gefahr in Gestalt eines Drachen auftritt, wird die funktionalistische Interpretation fragwürdig. Als Musterbeispiel für ein fantastisches Werk zieht Catherine Belsey dabei Shakespeare’s „A Midsummer Night’s Dream“ heran, ein Drama, in dem Elfen Liebende verzaubern, bizarre Verwandlungen für Furore sorgen und, Spiel im Spiel, Schauspieler zu Schauspielern werden.
Vorstellungskraft – wie Literatur – vermag oft keinen funktionalen Wert aufzuweisen. Sie ist unmanipulierbar, sie motiviert direkt das menschliche Verhalten und kann dabei eine positive, aber auch eine destruktive Wirkung entfalten. Sexuelle Fantasien können abnorme Formen annehmen. Religiöse Extremität kann zu Selbstmordattentaten, eine fundamentalistische Denkweise zu folgenreichen kriegerischen Auseinandersetzungen führen. Unsere Kultur ist gekennzeichnet von extremen Gegensätzen wie Apartheid und Feminismus, beide gleichermaßen angetrieben von Imagination.
Catherine Belsey, Professorin für „Critical and Cultural Theory“, ist als Autorin von Schriften über John Milton, Shakespeare und Love Stories in der westlichen Kultur hervorgetreten, hat aber auch mit Überlegungen zum Poststrukturalismus und zum Verhältnis von Kultur und Realität aufhorchen lassen. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie den naturwissenschaftlichen Blickwinkel kritisch betrachtet. Dennoch ist ihr Plädoyer für Interdisziplinarität ein wichtiger Anstoß, wenn es darum gehen soll, Einseitigkeit und begrenzte Anschauung zu vermeiden.
Am 4. Juli steht auf dem Programm des CBS Prof. Adrian Pooles (University of Cambridge) Vortrag mit dem Titel „Dickens and Shakespeare’s Ghost“.