Schneller und schneller dreht sich die Erde in Amy Clampitts Gedicht "Nothing Stays Put" (Foto: GerdAltmann/PIXELIO).

Kornblumen, Löwenmäulchen, Kapuzinerkresse - Vom europäischen Bahndamm in amerikanische Gärten (Foto: Alpus/Wikipedia/CC BY-SA 3.0).

Völlig neue Perspektiven auf die Natur eröffneten sich dem Publikum (Foto: Pressestelle).

- Maike Bruns

Amerikanische Lyrik macht Unsichtbares sichtbar

Antrittsvorlesung von Christine Gerhardt

Ökologie und Migration in der amerikanischen Gegenwartsliteratur war das große Thema, dem sich Prof. Dr. Christine Gerhardt in ihrer Antrittsvorlesung am Montag, den 22. Oktober, widmete. Die Amerikanistin lehrt und forscht seit zwei Jahren an der Universität Bamberg und bereichert ihre Fakultät und die Studierendenschar mit spannenden interdisziplinären Themenkomplexen.

Zu den Forschungsschwerpunkten der Professorin, die Anglistik, Amerikanistik und Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Ohio University in den USA studierte, zählen neben der amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts auch die afro-amerikanische Literatur und Kultur sowie die Themen Ökologie und Ökonomie in der amerikanischen Literatur. Ihr Interesse an Ökologie manifestierte sich bereits, während sie sich mit einer Arbeit über Natur und Ökologie in den Werken von Walt Whitman und Emily Dickinson habilitierte. Im Herbst 2008 übernahm sie für zwei Jahre die Leitung des Deutsch-Amerikanischen Instituts in Freiburg.

Die Verbindung von Migration und Ökologie in der amerikanischen Literatur

Disequilibrium – Ungleichgewicht – war das Schlüsselwort in der Antrittsvorlesung. Gerhardt stellte die Frage, welche Verbindungen zwischen den Themen Migration und Ökologie in der amerikanischen Gegenwartsliteratur bestehen und inwieweit diese Verbindungen nicht nur soziale, gesellschaftliche und politische Ungleichgewichte sichtbar machen, sondern auch eine neue Welt zeigen, die grundsätzlich in Bewegung und außer Balance ist.

Die vielleicht offensichtlichste Verbindung von Migration und Ökologie besteht für viele im Kontext der sogenannten Umweltflüchtlinge, erläuterte Gerhardt. „In der amerikanischen Gegenwartsliteratur gibt es aber eine ganze Reihe von Texten, die sich dem Zusammenhang von Migration und Ökologie auf ganz andere Weise nähern“, berichtete sie. Diese Literatur mache Migration als eine gebrochene, widersprüchliche Bewegung erfahrbar und eröffne dabei auch neue, ökologisch relevante Perspektiven auf die Natur. Bewegung wird also zu einem Motiv, das die Verbindung von Migration und Ökologie sichtbar macht. Die Texte geben die Vorstellung von einer stabilen Welt, die durch Migration oder ökologische Veränderungen aus den Fugen gerät, auf, und zeigen eine Welt im permanenten Ungleichgewicht, die längst von Verwerfungen und Brüchen durchzogen ist. Neben der Sehnsucht nach einer verlorenen Stabilität steht hier die Chance, diese allumfassende Dynamik und unseren Platz in ihr neu zu begreifen.

Das Motiv „Bewegung“ in Amy Clampitts Gedicht „Nothing Stays Put“

Anhand verschiedener lyrischer Texte der amerikanischen Gegenwartsliteratur – „Freeway 280“ von Lorna Dee Carvantes, „The Gardener“ von Carolina Hospital und „Nothing Stays Put“ von Amy Clampitt – verdeutlichte Christine Gerhardt das Motiv der Bewegung. „Nothing Stays Put“ soll hier beispielhaft hervorgehoben werden: Am Beispiel verschiedener Pflanzen sowie exotischen Früchten im Supermarkt, in Gärten und Straßenzügen vermittelt Clampitt in ihrem Gedicht das Bild einer exzessiven, rastlosen Zeit, unter der Menschen wie Umwelt gleichermaßen leiden. Der Autorin erscheint diese Welt erkennbar fremd.

Clampitt spricht in den ersten Zeilen von Orchideen, die frisch aus Hawaii eingeflogen, aber sichtlich ermüdet, auf den Bürgersteigen stehen und auf einen Käufer warten. Von Ananasfrüchten, die angehäuft wie Kanonenkugeln nach Aufmerksamkeit heischen, und von Ladenbesitzern aus Südkorea: Migration ist untrennbar mit Ökologie verknüpft, Bewegung ist Ursache, Symbol und Medium zugleich und visualisiert ein Ungleichgewicht, das sich auf verschiedenen Ebenen des Lebens zeigt.

Die anschließenden Beschreibungen von Kornblumen, Löwenmäulchen und Kapuzinerkresse sind verändert in ihren Formulierungen und Wortgebräuchen. Sie werden weicher, wenn Clampitt sich in ihre Erinnerung an Großmutters Prairie-Garten flüchtet, in dem all diese Pflanzen scheinbar ihr geordnetes Zuhause hatten. Aber selbst hier zeigt sich das Motiv der Bewegung: Von den Straßenrändern und Bahndämmen Europas haben die Pflanzen ihren Weg bis in die USA gefunden, so wie auch ihre Familie nicht fest in Amerika „verwurzelt“ ist, sondern aus Generationen von Einwanderern besteht. Solche Umbrüche sind Teil der Natur, nicht ihr Gegenbild. Und so schließt Clampitt mit den Worten: The world is a wheel. All that we know, that we’re made of, is motion.