Enrique Rodrigues-Moura

Reflexionsvermögen durch ein Literaturstudium schulen

Gestatten, Enrique Rodrigues-Moura, Iberoromanist!

Akademisches Leitbild

Worin besteht Ihr Selbstverständnis als Professor?

Als Wissenschaftler und Hochschullehrer sehe ich es als eine meiner wichtigsten Aufgaben an, eine fruchtbare Wechselbeziehung zwischen Forschung und Lehre herzustellen. Im Bereich Forschung tragen Professorinnen und Professoren in Interaktion mit der internationalen Wissensgemeinschaft zur Erweiterung des Wissens bei. In der Lehre werden die erarbeiteten Erkenntnisse weitergegeben, diskutiert und weiterentwickelt. Außerdem ist sie eines der wichtigsten Instrumente zur Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern.

Die übergeordneten Ziele universitärer Lehr- und Lernprozesse bestehen für mich darin, historisches Bewusstsein zu vermitteln, das Einnehmen einer kritischer Distanz einzuüben und das vernetzte Denken sowie methodengeleitetes Analyse- und Reflexionsvermögen zu fördern. Mir ist auch bewusst, dass die Universität nicht nur einen Bildungs-, sondern auch einen Ausbildungsauftrag zu erfüllen hat. Nicht alle Studierenden streben eine wissenschaftliche Karriere an. Eine differenzierte Förderung ihrer akademischen und berufsbezogenen Fähigkeiten, im Fall der Romanistik besonders im Hinblick auf die Lehramtsausbildung, ist daher notwendig und erfordert eine enge Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Romanistik und der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften.

Außerdem möchte ich Studierende und Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler dazu anleiten, sich Wissen selbständig zu erarbeiten; ich möchte sie beim Auf- und Ausbau ihrer internationalen wissenschaftlichen Vernetzung unterstützen und zum Eintritt in die Scientific Community ermutigen.

Warum sollte man heute Ihr Fach studieren?

Ein Literaturstudium kann nicht nur die Wahrnehmungsfähigkeit für brisante gesellschaftliche Entwicklungen schulen, sondern auch das Vermögen fördern, sie zu benennen, zu reflektieren und zu analysieren. Vieles weist darauf hin, dass die literarische Fiktion schneller als andere Diskurse auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert, diese aufnimmt und thematisiert. Um zwei Beispiele aus dem iberoromanischen Raum zu nennen: Die Auseinandersetzung und Aufarbeitung des Spanischen Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur setzte in der Literatur schon früh und äußerst differenziert ein, lange bevor ihnen im öffentlichen Diskurs Raum gegeben wurde. Auch das Leben in den Favelas, den Armenvierteln in den Randlagen der großen Städte Brasiliens, wurde literarisch bearbeitet, ehe sich der brasilianische Staat des Phänomens annahm. Das heißt: Literatur bzw. Fiktion machen auch das vom Mainstream und in der Alltagsrealität Verdrängte sichtbar.

Die Romanistik im Speziellen gewinnt ihre Bedeutung bis in die Gegenwart hinein dadurch, dass die romanischen Literaturen und Kulturen gemeinsam mit den angelsächsischen bis heute für das intellektuelle Leben im deutschsprachigen Raum eine wichtige Referenz bilden: Vor allem im 19. Jahrhundert nutzte man sie als Projektionsflächen, um sich der eigenen Identität zu vergewissern bzw. sich eine eigene nationale Identität zu konstruieren. Oder man frequentierte sie mit dem Ziel, sich anderen Horizonten und Denktraditionen zu eröffnen.

Haben Sie ein besonders wichtiges / schönes / spannendesForschungsprojekt, über das Sie gerne berichten möchten?

Zunächst einmal ganz allgemein zu meinen Forschungsschwerpunkten und den Möglichkeiten, sie in die Bamberger Romanistik einzugliedern:
Die Bamberger Romanistik betrachtet Literatur- und Kulturwissenschaft als Einheit. Mit dieser Sichtweise identifiziere ich mich und werde versuchen, sie weiter zu vertiefen. Die bisherigen Forschungsaktivitäten in der Bamberger Romanistik legen es nahe, eine Bündelung vorhandener Expertisen zum iberischen Raum (z.B. baskische und katalanische Forschungsschwerpunkte) anzustreben. Es besteht die Möglichkeit, das Konzept der Iberian Studies zu einem Forschungsschwerpunkt zu machen, zumal ich selbst nicht nur im Bereich der Hispanistik, sondern auch im Bereich der Lusitanistik/Brasilianistik arbeite.

Zudem soll eine verstärkte Berücksichtigung der transatlantischen Kulturbeziehungen zwischen Lateinamerika und der Iberischen Halbinsel auch dazu führen, dass die Lateinamerikanistik, die ein sehr wichtiger Bereich der internationalen Hispanistik ist, auch in Bamberg Fuß fassen kann. Außerdem verstehe ich die Professur als wissenschaftliche Transferstelle zwischen dem deutschsprachigen und dem romanischen, insbesondere hispanophonen und luso-brasilianischen Raum und sehe zahlreiche Schnittstellen und Anknüpfungspunkte zu anderen kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen.

Ein konkretes Projekt, das mir sehr am Herzen liegt, trägt den Arbeitstitel „Der lange Schatten der Diktaturen. Fiktionale und faktuale Narrationen in der Iberoromania“. Es zielt auf eine Bestandsaufnahme der Forschungsaktivitäten zu zeitgenössischer Literatur des iberoromanischen Raumes, die sich mit den Diktaturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. Dies bedarf einer engen Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen anderer Universitäten im In- und Ausland sowie der Einbeziehung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern.

Das Erkenntnisinteresse dieses Projekts ergibt sich aus dem Umstand, dass die große Mehrheit der hispano- und lusophonen Länder erst in jüngerer Vergangenheit längere Perioden der Diktatur überwunden haben, die zumeist von den ideologischen Polarisierungen des Kalten Krieges geprägt waren. Eine der bemerkenswertesten Tendenzen in der Literatur, die seither in diesen Ländern publiziert wurde, besteht in der direkten oder indirekten Thematisierung der jeweiligen staatlich-institutionalisierten diktatorischen Gewalt. Bei der literarischen Auseinandersetzung mit dieser Gewalt und den Wunden, die sie hinterlassen hat, kommen sehr unterschiedliche Narrative und (Erzähl-)Strategien zum Tragen. Die systematische Erschließung ihrer Vielfalt und Komplexität stellt, wie ich glaube, ein wichtiges und drängendes Forschungsfeld dar.

Leben in Bamberg

Was schätzen Sie an Bamberg? Was fällt Ihnen im Vergleich zu Ihrem Herkunftsort besonders an Bamberg auf?

Bamberg ist von seiner Architektur und seinem Stadtbild her eine wunderschöne und geschichtsträchtige Stadt, die es in vorbildlicher Weise verstanden hat, ihr kulturelles Erbe zu erhalten. Mit Recht wurde Bamberg 1993 der Titel des Weltkulturerbes verliehen. Was mich aber noch mehr beeindruckt, ist die Tatsache, dass die Stadt nicht nur ihre prächtige mittelalterliche und barocke Vergangenheit präsent hält, sondern auch die historische Verantwortung für das Dritte Reich übernimmt und dies in Projekten wie den Stolpersteinen auch im öffentlichen Raum zum Ausdruck bringt. Mit großem Respekt sehe ich auf meinen Wegen durch Bamberg die Namen von im Nationalsozialismus ermordeten Bambergerinnen und Bambergern und bin froh, in einer Stadt arbeiten zu dürfen, die ihre Vergangenheit in allen Facetten auf sich nimmt.

In welchen Zusammenhang ist Ihnen Bamberg das erste Mal aufgefallen?

Lebhaft im Gedächtnis geblieben ist mir ein früher, indirekter akademischer Erstkontakt mit der Universität Bamberg: In den 1990er Jahren erschien beim Verlag Iberoamericana / Vervuert eine von Merlin H. Forster, K. David Jackson und Harald Wentzlaff-Eggebert herausgegebene Reihe zur Bibliographie und kritischen Anthologie der literarischen Avantgarden in der iberoromanischen Welt. In den Danksagungen wurden die Bibliotheken und Sammlungen erwähnt, die das Erscheinen der Reihe möglich gemacht hatten. Dort stand die Otto-Friedrich-Universität Bamberg u. a. neben der University of Texas at Austin, der Yale University oder dem Iberoamerikanischen Institut Berlin. Als ich diese Danksagungen in den 1990er Jahren las, wurde plötzlich aus dem romantisch verklärten Ort im fernen Deutschland ein Ort, der mit den iberischen und lateinamerikanischen Avantgarden in Verbindung stand. Damals erschien mir diese Entdeckung als eine gleichermaßen seltsame wie freudige Überraschung.