Der Aufstieg des Homo Augmentus
Obwohl emeritiert, ist Prof. Dr. Dietrich Dörner weiterhin wissenschaftlich tätig und befasst sich mit seinem Hauptthema: Theoretische Psychologie. Bis 2005 war er Direktor des damaligen Instituts für Theoretische Psychologie an der Universität Bamberg. Das Institut existiert mittlerweile nicht mehr, sodass es weltweit nur noch eines in Kanada gibt. In einem Artikel setzt sich der Emeritus of Excellence der Otto-Friedrich-Universität mit den Aspekten künstlicher Intelligenz auseinander, die die theoretische Psychologie unmittelbar betreffen:
Seit über 70 Jahren forschen die Menschen an KI, der künstlichen Intelligenz. KI ist inzwischen ein Geschäftszweig geworden und vom Spielfeld innovativer Pioniere zum Schlachtfeld der Tech-Entwickler avanciert; viele Firmen bieten KI Leistungen an und offensichtlich mit Erfolg. Was nun genau KI ist, ist durchaus noch unklar; das hängt auch damit zusammen, dass den Psychologen eine Definition des Begriffes „Intelligenz“ bislang nicht gelungen ist. Der Freiburger Psychologe Heise sagte einmal: „Wunderbar! Sie wissen nicht was es ist, aber sie können es messen!“ – Nun, sei‘s drum. –
Die künstliche Intelligenz wird nicht nur als Bereicherung empfunden, sondern auch als Bedrohung. Wenn heute zum Beispiel ChatGPT eigenständig Unterhaltungen über beliebige Themen führen, Essays und sogar Gedichte schreiben kann, so fragt sich manch einer, zum Beispiel ein Journalist, was das für ihn bedeutet. Arbeitslosigkeit? Macht in Zukunft alles die KI? Können wir uns dann in den ewigen Urlaub begeben, während unsere Kinder von KI-Lehrern unterrichtet werden (vielleicht sogar von ChatGPT persönlich)? Wobei unklar ist, was sie überhaupt noch lernen sollen, wenn die Lösung für jede Rechenaufgabe und Entscheidung, ob man sich nun diesen oder jenen Mantel kaufen sollte, wohin man im Urlaub fahren sollte, durch entsprechende KI Systeme vorgeschlagen werden kann. Da fragt man sich denn auch, was man eigentlich noch auf der Welt soll, wenn man zu gar nichts mehr nütze ist. Vielleicht merkt das die KI auch und beschließt dann, dass wir am besten aussterben sollten!
An diesem Punkte bringt der österreichische KI-Entwickler Marnus Flatz eine Alternative ins Spiel, die meines Erachtens sehr wichtig ist. Es geht nicht darum, den Menschen durch die KI zu ersetzen, sondern es geht darum, den Menschen durch KI in seinen eigenen Fähigkeiten zu bereichern. Man ersetzt nicht das Gehirn durch den Computer, sondern man versucht, die Gehirnfunktionen durch Computer zu unterstützen und zu verbessern. Flatz prägt dafür den Begriff des Homo Augmentus (von lateinisch augmentare = helfen, unterstützen, vermehren, bereichern).
Schon heute entwickeln wir beispielsweise „Brain Computer Interfaces“ (BCIs), die es dem Menschen erlauben, technische Prothesen, Exoskelette und andere Hilfsmittel mittels „Gedankenkraft“ zu steuern. Und andererseits kann man auf Geräte aus dem Bereich „Augmented Reality“ (AR) zurückgreifen, die dem Menschen beispielsweise über Brillen erweiterte Information verschaffen. Dadurch könnte ein Mensch mit seiner realen Umgebung erheblich besser kommunizieren. Statt mit unseren Augen nur die normale Umgebung zu sehen, könnte man beispielsweise das eigene Sichtfeld um Satelliten-Bilder erweitern, die uns einen besseren Überblick verschaffen. Wir nehmen nicht nur das wahr, was um uns herum der Fall ist, sondern können auch das sehen, was hinter der Wand ist, vor der wir stehen. Flatz glaubt, dass die Nutzung solcher Geräte bis zum Jahr 2040 „mainstream“ sein wird und damit das Zeitalter des Homo Augmentus angebrochen wäre.
Das wäre eine Art von künstlicher Evolution. Und eigentlich kennen wir ja so etwas schon, wenn wir heutzutage Brillen und Hörgeräte benutzen. Nur greifen die Ergänzungen der Gehirnfunktionen durch KI viel tiefer in die „Seele“ ein, als eine Sonnenbrille. – Und hier stellen sich natürlich auch gesellschaftliche Fragen. Wer hat Zugang zu Exoskeletten und zu „unterstützter“ Gedankenkraft? Könnten BCIs unter Umständen zu einer Überflutung mit Informationen führen, die den Menschen nicht besser informiert, sondern in einen Zustand der Verwirrung bringt. Wie bündelt und organisiert man die Masse von neu einströmenden Informationen? Wie geht man damit um, dass unter Umständen neue Informationen den bereits vorhandenen Gedächtnisinhalten widersprechen? Wie koordiniert man diese Informationen mit gelerntem Verhalten? – Und muss man im Bundestag beispielsweise dann vorschreiben, dass die Verwendung von BCIs obligatorisch ist? Wenn sie das nicht wäre, dann würden wir ja im Bundestag zum Beispiel (und auch in beliebigen anderen Gremien) die BCI-Klugen von den normal Klugen abtrennen müssen. Müsste man nicht den Zugang zu Abstimmungen von der Informiertheit der einzelnen Personen abhängig machen?
Bereits heute werden von „Hilti" oder dem deutschen Unternehmen „German Bionics" Exoskelette auf den Markt gebracht, die es dem Menschen erlauben, höhere Gewichte zu tragen. Der amerikanische Tech-Riese Apple möchte AR- und VR-Geräte zum nächsten „Umsatzbringer“ des Konzerns machen, die mittelfristig sogar das iPhone ablösen könnten. Über eine Brille könnte der Nutzer telefonieren, Apps nutzen, Spiele spielen und zusätzliche Informationen über seine reale Umgebung gewinnen. – Aktuell wurde der Start seitens Apple mehrfach verschoben, allerdings scheint es nur eine Frage der Zeit, bis der Konzern tausende AR-Apps, die er bereits heute in seinem APP-Store anbietet, auch in „Brillenform“ zur Verfügung stellt.
Die Universität Graz forscht erfolgreich an BCIs zur Steuerung von Prothesen mittels Gedankenkraft. Dies könnte für Menschen mit körperlichen Einschränkungen eine lebensverändernde Technologie sein, die bereits heute im Labor funktioniert. Das französische Start-Up „Next-Mind" hat ein nicht-invasives BCI-Gerät in Form eines Stirnbandes marktreif gemacht, mit dem der Nutzer in der Lage sein soll, seinen Smart-TV und bestimmte Computerspiele zu steuern. Forscher der Universität Stanford berichten von Erfolgen im Bereich des „Gehirntippens“. Anstelle des Eintippens von Worten mittels Finger über die Computer-Tastatur, werden Worte direkt über ein BCI auf den Computer übertragen.
Elon Musks BCI-Research Center „Neuralink" forscht in (sehr umstrittenen) Versuchen, an Möglichkeiten, bluetooth-gesteuerte Chips so ins Gehirn einzusetzen, dass Menschen mit eingeschränkten Seh- und Hörleistungen, ihre Fähigkeiten zurückerlangen könnten. Und der Social Media Konzern „Meta" forscht mit „Meta AI“ bereits an BCIs, die es ermöglichen sollen, Gehirnströme in Text zu übersetzen.
Marnus Flatz beschreibt in seinem Buch „Entfesselte Intelligenz“ auch die auf den ersten Blick utopische Idee der Gedankenübertragung mittels BCI. Sollte es gelingen Hirnströme in komplexe menschliche Sprache zu übersetzen, dann könnten die gedachten Worte mittels BCI zwischen Gesprächspartnern übertragen werden.
Welche Möglichkeiten BCIs und Augmented Reality in Zukunft bieten werden, ist nur schwer voraussehbar. Sind wir unter Umständen dabei, den Menschen neu zu erschaffen? Und welche Wirkungen hat ein solcher Prozess auf die menschliche Psyche?
Brain Computer Interfaces und Augmented Reality-Geräte, die mit Gedankenkraft gesteuert werden, haben das Potential, unser Leben in bisher unvoraussehbarer Weise zu verändern. Als Psychologen sollten wir uns darüber Gedanken machen, welche Auswirkungen diese Technologien auf uns haben werden beziehungsweise haben könnten.
Eine wichtige Frage ist, wie sich BCIs auf unser „Selbstgefühl“ auswirken? Verändert sich unter Umständen unsere Identität? Könnte es zu Abhängigkeiten von der Technologie kommen? Wie könnte sich die Nutzung solcher Geräte auf unsere emotionale Stabilität, auf unser Selbstgefühl auswirken?
Eine kürzlich von Jeremy Bailenson, Professor für Kommunikation an der Stanford University, durchgeführte Studie hat gezeigt, dass AR-Erfahrungen das Verhalten von Menschen im realen Leben beeinflussen können, auch nachdem eine AR-Sitzung beendet ist.
An der Studie nahmen 218 Personen teil. Die Untersuchung bestand aus drei Teilen. In den ersten beiden Teilen interagierte jeder Teilnehmer mit einem virtuellen Avatar namens „Chris“, der auf einem (echten) Stuhl vor ihnen saß.
Im ersten Experiment ergab sich ein lang bekannter Effekt, nämlich die sogenannte „soziale Hemmung“. Menschen haben keine Schwierigkeiten damit, beobachtet zu werden, wenn sie leichte Aufgaben lösen müssen. Bei schwierigeren Aufgaben hingegen ist es ihnen gewöhnlich unangenehm, wenn sie beobachtet werden. Genau das ergab sich ebenfalls, wenn „Chris“ die Studienteilnehmer beobachtete.
Die Versuchspersonen absolvierten einfache Anagramme schneller, bei komplexen Aufgaben aber schnitten sie schlechter ab, wenn „Chris“ in ihrem AR-Blickfeld auftauchte.
Im nächsten Teil des Experiments prüfte man, ob die Augmented-Reality-Erfahrung der Teilnehmer ihr Verhalten auch nach Ablauf der Sitzung beeinflussen würde. Dies wurde gemessen, indem man beobachtete, welchen Sitzplatz die Teilnehmer wählen würden, nachdem sie die AR-Brille abgenommen hatten. Die Forscher fanden heraus, dass 72 Prozent der Teilnehmer, auf dem leeren Stuhl neben „Chris“ Platz nahmen und nicht auf dem Stuhl, auf dem – gemäß der AR-Brille – der Avatar saß.
Diese Ergebnisse zeigen, dass die Verwendung von AR tatsächlich das Verhalten von Menschen in sozialen Situationen beeinflusst. Das liegt offensichtlich daran, dass das menschliche Gehirn humanoide Avatare als eigenständige Agenten ansieht, als Partner oder aber sogar als Feinde. Und so könnte es sein, dass auch „Monster“ oder imaginäre Angreifer in einer virtuellen Welt als reale physische Bedrohungen wahrgenommen werden. Diese Effekte könnten bei Jugendlichen und Kindern, deren Gehirne sich noch entwickeln, noch stärker sein. Die natürliche Welt und die künstliche Welt der KI wären kaum mehr trennbar.
Laut Bailenson, kann die Verwendung von Augmented Reality-Technologie das Verhalten von Menschen mannigfaltig beeinflussen: „Wir haben entdeckt, dass die Verwendung von Augmented Reality-Technologie den Weg, wie man geht, wie man den Kopf dreht, wie gut man bei Aufgaben abschneidet und wie man sozial mit anderen realen Personen im Raum verbunden ist, verändern kann.“
Diese Erkenntnisse unterstreichen die Auswirkung, die AR-Technologie auf die menschliche Psyche hat. Es ist bemerkenswert, dass AR nicht nur die Art und Weise beeinflussen kann, wie Menschen kognitiv handeln, sondern auch ihr soziales Verhalten und ihre Interaktionen mit anderen im realen Raum. Daher ist es wichtig, dass Entwickler und Anwender bewusst über die möglichen Auswirkungen ihrer Arbeit auf die menschliche Psyche nachdenken, um negative Auswirkungen zu vermeiden. Es sind weitere Forschungen notwendig, um die langfristigen Auswirkungen von AR auf die menschliche Psyche zu verstehen.
Es gibt noch keine weiteren psychologischen Studien zur Auswirkung von BCIs auf die menschliche Psyche. Wenn man die vielseitigen Studien zur Sicherheit von Künstlicher Intelligenz bedenkt, so ist es mehr als verwunderlich, dass angesichts einer Technologie wie dem BCI, das sich direkt mit dem menschlichen Gehirn koppeln soll, noch keinerlei belastbare Daten aus der psychologischen Forschung vorliegen. Selbst die häufige Nutzung passiver BCI-Applikationen könnte zu erheblichen psychischen Belastungen führen, von aktiven BCI-Systemen ganz zu schweigen. Wenn wir es der Technologie erlauben, sich auf direktem Weg mit unserem Gehirn zu koppeln, um Informationen zu übertragen, dann ist es grob fahrlässig, die Wirkungen und Nebenwirkungen der Verwendung von BCIs nicht umfangreich und genau zu untersuchen, um psychische Schädigungen zu verhindern. – Während jedes neue Medikament eine langdauernde und gründliche Testphase durchlaufen muss, ehe es für die Öffentlichkeit freigegeben wird, können Tech-Start-Ups wie „Next-Mind" derzeit ungeprüft BCI-Applikationen auf den Markt bringen.
Die Wirkungen solcher Applikationen könnten vielfältig sein. Und die möglichen Beschreibungen. Die Implikationen auf Kognition und Psyche könnten so vielfältig sein, dass es den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, sie allein stichwortartig zu skizzieren. Als Anregung und ohne Anspruch auf Vollständigkeit hier eine Liste möglicher Untersuchungen:
- Kognitionspsychologisch wäre es sinnvoll, die Auswirkungen von BCIs auf die Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis zu untersuchen.
- Weiterhin wäre es bedeutsam, zu untersuchen, wie sich BCIs auf soziale Beziehungen und die Kommunikation auswirken.
- Entwicklungspsychologisch wäre es wichtig, zu untersuchen, welchen Einfluss die BCIs auf die geistige und emotionale Entwicklung haben.
- Und natürlich wäre es interessant und wichtig zu untersuchen, inwieweit die Verwendung von BCIs entweder zu Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen führen kann. Auch könnte es zu Störungen in der Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten kommen.
Sollten wir uns also tatsächlich, wie es von Marnus Flatz angenommen wird, vor dem Tor zum Zeitalter des Homo Augmentus befinden, so darf die Psychologie die Aufgabe nicht verpassen, sich zu überlegen, wie es hinter dem Tor aussehen mag. Diesen Diskurs sollte man nicht allein den Tech-Entwicklern überlassen.