Französisch-Stunde in Haiti: Für die meisten Eltern ist der Hauptgrund für Schulunterricht, dass ihre Kinder Französisch lernen (Foto: Jürgen Eckert, Pressestelle des Erzbischöflichen Ordinariats Bamberg)

Wichtige Quelle für das koloniale Französisch: Reisebericht von Pater Jean-Baptiste Labat aus dem Jahr 1724, der die Kreolsprachen als "korrumpiertes Französisch" bezeichnete (Staatsbibliothek Bamberg, Geogr it q 152)

Annegret Bollées Lebenswerk: ein etymologisches Wörterbuch aller französischbasierter Kreolsprachen (Foto: Felix Hofmann)

Arbeitsbesprechung des Wörterbuch-Teams in Regensburg (v.l.n.r.): Ingrid Neumann-Holzschuh und Evelyn Wiesinger (beide Universität Regensburg), Ulrike Scholz und Annegret Bollée (Foto: Verena Danner)

- Felix Hofmann

„Nie mehr im Leben ein Wörterbuch!“

Einmalige Dokumentation französischer Kreolsprachen

„Damals bin ich mit meinem sieben Kilo schweren Aufnahmegerät – und somit im Schweiße meines Angesichts – durch die Berghänge der Seychellen gestreift“, erinnert sich Dr. Annegret Bollée, emeritierte Professorin für Romanische Sprachwissenschaft, an die Anfänge ihrer Forschung über Kreolsprachen. Hervorgerufen hatte diese nostalgische Erinnerung ein Smartphone mit integriertem Aufnahmegerät. „Das wäre heutzutage sicherlich einfacher zu bewerkstelligen. Aber spannender war es früher allemal.“

Einzige Kommunikationsmöglichkeit auf den Plantagen

Die Erforschung, oder genauer: ein etymologisches Wörterbuch aller französischen Kreolsprachen – das ist das Projekt ihres Lebens. Auch wenn die Einordnung im linguistischen System nicht einfach ist, geben Annegret Bollée und ihre Projektmitarbeiterin Dr. Ulrike Scholz doch eine prägnante Definition: „Kreolsprachen sind während der Kolonialzeit in der Plantagengesellschaft entstanden, als Sklaven in großer Zahl als Erwachsene Fremdsprachen – die Sprachen der Kolonialherren – lernen mussten und sie in diesem Lernprozess so erheblich verändert haben, dass neue Sprachen entstanden sind.“ Diese Notwendigkeit bestand, weil durch die Umstände des Sklavenhandels Afrikaner ganz unterschiedlicher Muttersprachen auf den Plantagen zusammenkamen, die auch untereinander kein gemeinsames Kommunikationsmittel hatten.

In Kolonialgebieten entstanden, sind diese Sprachen auch heute noch dort verbreitet, sofern sie nicht ausgestorben sind: in der Karibik und in Westafrika, an der Westküste Indiens, in Südamerika, in Südostasien und Ozeanien. Dabei basieren die atlantischen Kreolsprachen auf europäischen Sprachen (Englisch, Französisch, Niederländisch, Portugiesisch oder Spanisch) mit afrikanischen oder indianischen Einflüssen, diejenigen im Indischen Ozean ebenfalls auf europäischen Sprachen mit madagassischen oder indischen Spracheinflüssen. Bollées Interesse lag immer auf den französischbasierten Kreolsprachen, den Frankokreolsprachen, die hauptsächlich in zwei Gebieten verbreitet sind: in Louisiana, Haiti, auf den Kleinen Antillen und in Französisch-Guayana, also auf amerikanischem Boden auf der einen Seite, auf der anderen Seite auf Inseln im Indischen Ozean, in Vietnam und auf der pazifischen Insel Neukaledonien. 

Abgrenzung von den Kolonialherren

Bollées Untersuchungen liefern einen wichtigen Baustein für die Erforschung des kreolischen Wortschatzes, dessen Herkunft und Geschichte noch kaum wissenschaftlich erfasst sind. Beispielsweise stammen über 90 Prozent des haitianischen Vokabulars aus der französischen Sprache, Aussprache und Grammatik unterscheiden sich jedoch deutlich. Aus dem Standardfranzösischen „boeuf“ wird so das Haitianische „bèf“, aus der „alliance“ die „lalyans“. Letztendlich dienten diese Sprachen auch der Abgrenzung von den Kolonialherren: „Li pale franse“ (Man kann ihm nicht trauen, er ist ein Lügner) heißt wörtlich übersetzt: „Er spricht französisch“. Die Aufforderung „Kreyòl pale, kreyòl konprann“ (Sprich ehrlich, betrüge nicht) bedeutet eigentlich „Kreol gesprochen heißt auch Kreol verstanden“.

Recherchearbeit – ein Knochenjob nicht nur in den 80er Jahren

Da solch eine zeitaufwendige und kostspielige Forschungsarbeit nicht alleine zu stemmen ist, hat Annegret Bollée für ihr aktuelles Wörterbuch-Projekt, die Dokumentation amerikanischer Frankokreolsprachen, Unterstützung gesucht: Neben der Bambergerin leiten auch die Romanistin Prof. Dr. Ingrid Neumann-Holzschuh von der Universität Regensburg und Prof. Dr. Dominique Fattier, Linguistin an der Université de Cergy-Pontoise, dieses Projekt. Zur Vorbereitung und Recherche mussten sie zunächst das Vokabular der kreolischen Sprachen aus bereits vorhandenen Wörterbüchern sammeln, um anschließend seine sogenannten Etyma, also die sprachlichen Wurzeln zu untersuchen. Diese werden für das entsprechende etymologische Wörterbuch aufbereitet: Es informiert über die Herkunft und die Geschichte einzelner Wörter und Wortteile. Dabei erläutert es sowohl die lautliche Entwicklung als auch die sprachliche Bedeutung dieser Wörter und dokumentiert die Wurzeln der einzelnen Spracheinheiten mit Hilfe von Belegen aus der Literatur.

Bollée kann dabei auf ihre bisherigen Erfahrungen mit der Erforschung von Kreolsprachen und der Erstellung von Wörterbüchern zurückgreifen: Seit dem Jahr 1980 arbeitete sie am Pendant des aktuellen Werkes, einem etymologischen Wörterbuch der französischen Kreolsprachen im Gebiet des Indischen Ozeans. In den Jahren von 1993 bis 2007, also auch nach Bollées Emeritierung im Jahre 2002, erschienen insgesamt vier Bände. Obwohl sie sich anlässlich ihres 70. Geburtstag im selben Jahr schwor: „Nie mehr im Leben ein Wörterbuch!“, plant sie nun mit ihrem Team, bis 2015 das etymologische Wörterbuch für die amerikanischen Frankokreolsprachen zu veröffentlichen. Nach Fertigstellung wären demnach alle aus dem Französischen entstandenen Kreolsprachen abgedeckt. Ohne eine finanzielle Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), so Bollée, könnte man das Werk nie innerhalb von vier Jahren fertigstellen.

Auch wenn die französische Fachwelt anfangs über die Initiative aus Deutschland nicht restlos glücklich war, ist Annegret Bollées Werk mittlerweile international anerkannt. Besonders die Tatsache, dass sie ihre Forschungsergebnisse im Gegensatz zu früheren Linguisten auf Französisch veröffentlicht, dürfte dazu beigetragen haben, so Bollée. „Überdies erforscht sowieso jeder das, wozu er Lust hat“, erklärt die Romanistin. Genau diese Leidenschaft für Kreolsprachen ist Annegret Bollée und ihrer Mitarbeiterin Scholz anzumerken, wenn sie über ihre Arbeit sprechen.

Stigmatisierung bekämpfen

Annegret Bollée hat aber neben ihrer eigenen Begeisterung noch einen uneigennützigen Grund für ihr Engagement im Ruhestand: „Die Gesamtheit der Kreolsprachen verbindet eine stark von Ideologie geprägte Wissenschaftsgeschichte. So wurden sie zu Beginn ihrer Erforschung im 19. Jahrhundert mehr als drolliges Kuriosum denn als ernstzunehmendes Forschungsfeld behandelt.“ Dies sei auf die Stigmatisierung der Kreolsprecher zurückzuführen, die als beschränkt und unfähig galten, die Sprache der Europäer korrekt zu erlernen. Dieses Vorurteil haftet ihnen in abgeschwächter Form noch heute an und wird erst seit wenigen Jahren durch die moderne Kreolistik nach und nach ausgeräumt. Annegret Bollée und ihr Team schaffen mit ihrem Wörterbuch wissenschaftliche Grundlagen für diese Neubewertung der ehemaligen „Sklavensprachen“, die damit auch bei ihren Sprechern einen höheren Stellenwert bekommen.

Weitere Informationen

Weitere Informationen zu Annegret Bollées Projekt finden Sie auf der Internetseite des Lehrstuhls für Romanische Sprachwissenschaft. Erste Ergebnisse wurden bereits vorab im Internet veröffentlicht und können im Virtuellen Campus abgerufen werden.