Neolithische Siedlungen und vergessene Funde - Neues zur Jungfernhöhle bei Tiefenellern (Timo Seregély)

Als „Schatzgräber“ Georg Engert 1951 die ersten Menschenknochen und weitere prähistorische Hinterlassenschaften aus der sagenumwobenen Jungfernhöhle bei Tiefenellern schaufelte, ahnte noch niemand, welche wissenschaftliche Sensation dieser oft so finstere Platz in der Fachwelt bald darstellen sollte. Schon ein Jahr später wurde die Höhle unter Leitung des damaligen Hauptkonservators des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege in Würzburg, Otto Kunkel, von Mitgliedern des Historischen Vereins Bamberg in nur eineinhalb Monaten vollständig ausgegraben. Die schon drei Jahre später veröffentlichte Monographie erweckte durch ihre interdisziplinären Ansätze, so z. B. eingehender Beschreibung der Geologie, Fauna oder anthropologischer Ergebnisse, und den angewandten Methoden wie z. B. der Phosphatanalyse den Eindruck einer für die damalige Zeit recht progressiven Arbeit. Auch die von Otto Kunkel und der anthropologischen Bearbeiterin Gisela Asmus postulierte Interpretation der damals 38 gezählten menschlichen Individuen als Menschenopfer bzw. Überreste kannibalischer Riten übernahm die Fachwelt bis in die 1990er Jahre hinein meist kritiklos.

Deutliche Zweifel hegte als erste Heidi Peter-Röcher, welche in ihrer Dissertation auf fehlende Spuren anthropogener Einwirkung hinsichtlich der gefundenen Menschenknochen verwies. Abgesehen von den Säuglingen erwog sie für die restlichen in die Höhle eingebrachten Individuen eine Deutung als Sekundärbestattungen, welche vor allem mit dem Fehlen vieler kleinerer Skelettelemente wie Wirbel und Hand- bzw. Fußknochen begründet war. Zu einem ähnlichen Resümée gelangte wenig später Jörg Orschiedt, welcher die Menschenknochen aus der Jungfernhöhle im Rahmen seiner Dissertation komplett neu aufnahm und analysierte. Demnach gelangten durch Kunkels Grabung Knochen von mindestens 41 Menschen ans Tageslicht, wobei 26 Kinder und Jugendliche sowie 15 Erwachsene vertreten waren. Mit 85 % war der Anteil der als weiblich bestimmten Individuen signifikant höher als jener der männlichen, welche gerade einmal 10 % einnahmen. Nur 5 % der Individuen ließen sich nicht sicher einem Geschlecht zuordnen. Die These der Zerstückelung konnte Orschiedt durch Identifizierung der deutlich überwiegenden Sprödbrüche überzeugend widerlegen. Auch bei den klar in geringerer Zahl belegbaren Spiralfrakturen ist nach Orschiedts Auffassung keine unmittelbar auf menschliche Einflüsse zurückführbar. Lediglich im Fall einer maturen Frau führte ein wahrscheinlich anthropogen verursachtes Schädeltrauma zum Tode. Das Fehlen von 96 % aller Frontzähne, für Kunkel und Asmus ein Beleg für die gewaltsame Extraktion und eine wichtige Stütze der Opferthese, begründete er mit taphonomischen Prozessen, die im Zusammenhang mit einer Lagerung der Leichen außerhalb der Höhle bzw. einem geringen Halt im Kiefer gesehen werden können. Orschiedt konnte keinerlei Schnittspuren an den Menschenknochen feststellen. Auch die Hinweise auf Feuereinwirkung erklärte er sich durch sekundäre Prozesse, welche erst wesentlich nach Einbringung der menschlichen Skelettteile in die Höhle auf das Knochenmaterial einwirkten. Bislang liegen neben einem konventionellen 14C-Datum, welches in den 1970er Jahren gemessen wurde, zehn AMS-Daten des Labors aus Zürich vor. Ausgenommen zweier Daten, die Orschiedt in das späte Jung- bzw. frühe Endneolithikum stellte, verknüpfte er alle anderen Altersbestimmungen mit der Linearbandkeramik. Das signifikant ältere Datum wies er trotz fehlender Funde dieser Stufe in der Höhle der ältesten Bandkeramik zu (siehe dazu weiter unten). Sowohl Peter-Röcher als auch Orschiedt gingen bei der Interpretation des Befundes bzw. der Analyse des Knochenmaterials von der Tatsache aus, dass bei der Grabung im Jahr 1952 das Fundmaterial gesiebt und damit zu annähernd 100 % geborgen wurde. Ihre Deutung als Sekundärbestattungen unterstrichen sie insbesondere mit dem Argument, dass die gerade in der Höhle dominierenden Frauen und Kinder in den bislang bekannten Gräberfeldern der Bandkeramik deutlich unterrepräsentiert sind. Ihrer Meinung nach stellt der Befund in der Jungfernhöhle eine alternative Bestattungspraxis für diese Gesellschaftsgruppe dar.

Im Herbst 2008 und Frühling 2009 fanden im Rahmen des Forschungsprojekts, gut 56 Jahre nach Kunkels Höhlengrabung, neue Untersuchungen statt, welche das bisherige Bild von der Jungfernhöhle in mancherlei Hinsicht verändern könnten. Grabungsort war der erweiterte Vorbereich der Höhle, der von Otto Kunkel nicht genauer untersucht worden war (Abb. 1). Nur direkt vor dem Höhleneingang legte er seinerzeit einen Testschnitt an, welcher äußerst knapp in seiner Auswertung zur Sprache kam. Das Ziel der aktuellen Grabungen sollte sein, mögliche Befunde vor der Höhle bzw. in ihrem unmittelbaren Umfeld zu erfassen, um so neue Hinweise zu den Motiven der Niederlegung menschlicher Körper oder derer Teile zu erhalten. Die Ergebnisse einer Geomagnetik-Prospektion nördlich, westlich und südlich der Höhle zeigten vereinzelt rundliche oder länglich gebogene, positive Anomalien, welche auf gruben- oder gräbchenartige Strukturen im Untergrund hindeuteten. Die gezielt angelegten Grabungsschnitte 4 bis 6 sowie 8 bis 9 erbrachten an diesen Stellen tatsächlich längliche oder rundliche Vertiefungen, welche bis an die anstehende Dolomitverwitterung oder eine im Tertiär entstandene Tonschicht (Terra fusca) reichten (Abb. 2).

 Diese Gräbchen bzw. Gruben waren mit einem kleinräumig umgelagerten, ebenfalls recht tonigen Sediment verfüllt, welches Siedlungsnachlässe unterschiedlicher Art, insbesondere Keramik enthielt. Unter den Silexgeräten sind vor allem Klingen und Kratzer (Abb. 3), u.a. auch aus gebändertem Plattenhornstein (Abb. 4) vertreten.  Weiterhin liegen Beil- und Meißelfragmente aus Felsgestein (Abb. 5) sowie Mahl- und Schleifsteinbruchstücke (Abb. 6) vor. Ein Rotlehmfragment aus Schnitt 8 wies sogar noch einen Rutenabdruck auf (Abb. 7). Somit ließ sich klar nachweisen, dass der unmittelbare Vorbereich der Jungfernhöhle besiedelt war. Das Fundmaterial ist zeitlich dem Jung- bzw. Spätneolithikum zuzuweisen.

Auffällig ist, dass zwei unterschiedliche Warenarten von Keramik auftreten, die  eine mit fast ausschließlich sandiger Magerung und dadurch raueren Oberflächen, die andere mit meist gut geglätteten Oberflächen. Erstere trägt häufiger Stich-, Tupfenleisten- oder Kerbleistenzier (Abb. 8, 4-5). Des Weiteren sind eine Wandscherbe mit Grifflappen sowie ein sehr großer Spinnwirtel im Fundmaterial vertreten (Abb. 8, 3; 9), allesamt charakteristische Elemente der sogenannten Chamer Gruppe, welche vor allem in Südostbayern und Westböhmen zu dieser Zeit verbreitet war. In Oberfranken hingegen ist spätneolithisches Fundmaterial, abgesehen vom Fundplatz Voitmannsdorf (jüngere Phase des Spätneolithikums zwischen 2900 und 2600 v. Chr.) bislang noch nahezu unbekannt. Charakteristisch für die ältere jungneolithische Keramik sind sogenannte Arkadenränder, Randstücke von Tulpenbechern, Fragmente von Ösenkranzflaschen und Bruchstücke von Schöpfern mit Wulstgriff (Abb. 8, 1-2). Eine genauere chronologische Zuordnung innerhalb der damit zu verbindenden Michelsberger Kultur fällt schwer, da das Material stark zerkleinert und die Rekonstruktion von Gefäßprofilen kaum möglich ist. In Zusammenschau mit den Altfunden aus der Höhle, z. B. einer Ösenkranzflasche mit Ösenkranz im unteren Gefäßdrittel, kann von einer Datierung in die mittlere Stufe III der Michelsberger Kultur, also etwa ins 40./39. Jh. v. Chr. ausgegangen werden. Damit zeichnen sich zwei trennbare Siedlungsphasen voneinander ab, eine ältere im Jungneolithikum zwischen ca. 4000 und 3800 v. Chr. sowie eine jüngere im Spätneolithikum zwischen 3300 und 2600 v. Chr. Interessanterweise fallen die beiden jüngsten 14C-Daten aus der Höhle genau in den Zeitraum dazwischen, also etwa 3650 bis 3350 v. Chr. (Abb. 10). Vom derzeitigen Eindruck müsste daraus geschlossen werden, dass es zwischen den Siedlungsaktivitäten vor der Höhle und der Einbringung menschlicher Skelette oder deren Teile keinen unmittelbaren Zusammenhang gibt. Die beiden möglichen Siedlungsphasen sind allerdings noch durch Altersdatierungen von Knochen aus den Kulturschichtresten zu verifizieren. Sowohl der typologische und technologische Eindruck der Keramik als auch das trennbare Vorkommen der beiden Warenarten in den untersuchten Schnitten deuten die Trennung in zwei zeitlich unterschiedliche Siedlungsperioden an. So zeigte sich für das möglicherweise spätneolithische Material eine Konzentration in den südlich gelegeneren Schnitten 4-6 sowie 13, für das jungneolithische eine Verteilung vor allem in den eher nördlichen Schnitten 8 und 10. Jedoch ließen sich, z. B. in den Schnitten 8 und 9, auch vermischte Bereiche erkennen.

Noch im Gelände als deutliche Rampe sichtbar, wurde in den Schnitten 2, 7 und 12 Abraummaterial der Kunkel-Grabung erfasst. Das geschah zunächst in Schnitt 2 eher unabsichtlich, jedoch zeigte sich dort bereits, dass die von Orschiedt angenommene Siebung des Sediments keinesfalls erfolgt ist. Im Gegenteil, das schwarzbraune Abraumsediment dieses Schnittes war voller Funde, u.a. verzierten Keramikscherben, Silices und Menschen- sowie Tierknochen. Unter dem Abraum konnte eine gelblichbraune Schicht mit vereinzelten jung- bis spätneolithischen Funden nachgewiesen werden, offenbar Reste alter Begehungshorizonte der schon erwähnten Siedlungsphasen (Abb. 11-12). Ein frühneolithischer Fundhorizont bzw. diesem anschließbare Befunde waren nicht mehr vorhanden. Somit lässt sich der Boden sehr wahrscheinlich als ehemalige Parabraunerde interpretieren, deren ausgebleichter A-Horizont mit dem frühneolithischen Niveau zwischen Ende der bandkeramischen Nutzungszeit und dem Jungneolithikum erodiert sein muss. Eine anzunehmende Rodung des Areals zur Zeit der Bandkeramik dürfte die Erosionsanfälligkeit begünstigt haben. Die verbraunte, tonige Schicht entspricht dem B-Horizont und ist als Rest der jung-/spätneolithischen Oberfläche zu betrachten. Auch hier führte Erosion in Folge geringer Vegetationsbedeckung zur Umlagerung der Siedlungsschichten in die vorher beschriebenen gräbchenartigen Befunde. Unter dem B-Horizont folgten entweder Terra fusca, angewitterter oder nackter Dolomitfels. In den Schnitten 2 und 7 ließen sich direkt auf diesem anstehenden Boden Reste einer Feuerstelle in Form von großen Holzkohlefragmenten sowie durch Feuereinwirkung zersplittertem Gestein nachweisen.

Stark brüchige Knochen, welche sich in deren Nähe und auf ähnlichem Niveau fanden, könnten auf ein paläolithisches bis mesolithisches Alter deuten. Viel interessanter gestaltete sich der Aspekt, dass das Höhlensediment während der Kunkel-Grabung entgegen den Annahmen späterer Bearbeiter der Jungfernhöhle nicht fein genug nach Funden abgesucht, geschweige denn gesiebt wurde. Deshalb wurden mit den Schnitten 7 und 12 im Frühjahr 2009 gezielt Teile des Abraums neu gegraben (Abb. 13-14), wobei eine Fülle von ursprünglich aus der Höhle stammenden Funden geborgen werden konnte.

 So fanden sich wie schon in Schnitt 2 zahlreiche Keramikfragmente    unterschiedlichster Zeitstufen (Abb. 15-16), ein verzierter Spinnwirtel der Eisenzeit (Abb. 17), etliche Silexartefakte (Abb. 18-20), mehrere Perlmuttplättchen sowie in beachtlicher Zahl Menschen- und Tierknochen. Nach einer ersten Durchsicht (mit herzlichem Dank an Dr. Joachim Wahl für die vorläufige Bestimmung) handelt es sich bei den Menschenknochen meist um Reste von Kindern, aber auch von wenigen juvenilen und erwachsenen Individuen. Darunter sind 7 Einzelzähne, die vermutlich durchgehend von Erwachsenen stammen, sowie ein Unterkieferfragment mit Wechselgebiss eines ca. 6jährigen Kindes. Bei den anderen Knochen bilden Rippen, Wirbel sowie Hand- und Fußknochen die Mehrzahl, wohingegen Schulterblatt, Schlüsselbein, Becken und große Langknochen nur vereinzelt vorkommen. Auch Schädelteile sind in dem geborgenen Material kaum vertreten. Somit finden sich im aktuellen Skelettmaterial genau diejenigen Elemente häufiger wieder, welche bei den Erstuntersuchungen völlig unterrepräsentiert erschienen.

 

 

Daher lässt sich schlussfolgern, dass sowohl die Erstbearbeitung durch Asmus als auch die spätere Neuanalyse durch Orschiedt auf einer falschen Datenbasis beruhen, welche auf eine unsaubere Grabungsgenauigkeit zurückzuführen ist. Offensichtlich wurden während der Grabung 1952 nur auffällige und größere Knochen- bzw. Gefäßteile geborgen, d.h. das Sediment eher nur grob durchgesehen. Dass dies anscheinend regelhaft praktiziert wurde, deuten die drei Schnitte an unterschiedlichen Stellen des Abraumhaufens an, wo sich vergleichbar dichte Fundkonzentrationen registrieren ließen. Die Interpretation der Jungfernhöhle erscheint daher wieder offener. Möglicherweise ist doch ein Großteil der menschlichen Individuen in vollständigem Zustand in die Höhle gelangt. Dies kann jedoch nur die komplette Bergung des Abraums, von dem bislang lediglich ca. 8 % untersucht wurden, verbunden mit einer aufwendigen Neubearbeitung, naturwissenschaftlichen Analysen sowie Altersdatierungen klären. Nicht auszuschließen ist, dass mit den drei momentan fassbaren Einbringungsphasen menschlicher Individuen völlig unterschiedliche Motive verknüpfbar sind. So repräsentiert das älteste 14C-Datum (Abb. 21) definitiv eine spätmesolithische Nutzung zwischen 5900 und 5600 v. Chr., welche auch durch entsprechende Artefakte belegt ist, darunter ein Stück aus Radiolarit (Abb. 22). Die Mehrzahl der bisherigen Daten fällt ins Frühneolithikum mit einem Schwerpunkt zwischen 5200 und 5050 v. Chr. (Abb. 23). Typologisch sind durch das vorhandene Gefäßspektrum die Phasen Meier-Arendt III-V belegt. Die späteste Phase V erscheint im bislang vorgelegten Material stark dominant, während die Phasen III und IV nur in Ausnahmefällen vorkommen. Geht man davon aus, dass die bandkeramischen Gefäße unmittelbar mit der Einbringung der Menschen in die Höhle zu verbinden sind, könnte das ein Indiz auf einen eher begrenzten Zeitraum der Deponierungen zwischen dem ausgehenden 52. und frühen 50. Jh. v. Chr. sein. Dem würden auch die neuen chronologischen Ansätze von Jens Lüning nicht widersprechen, welcher die Phasen Meier-Arendt III-V als jüngere Bandkeramik mittlerweile zwischen ca. 5130 und 4970 v. Chr. datiert. Eine Art von Bestattungspraxis dürfte zumindest für die bandkeramische Belegung durchaus noch als plausible These gelten, allerdings stützt sich diese lediglich auf das hervorzuhebende Geschlechter-/Altersverhältnis der dominanten Frauen bzw. Jugendlichen und Kinder. Andererseits fehlen bislang in Oberfranken reguläre Bestattungen in Gräberfeldern außerhalb von Siedlungen, auch von Männern. Auf die dritte Einbringungsphase menschlicher Individuen in die Höhle um die Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr. (Abb. 10) wurde schon an früherer Stelle hingewiesen.

Die Aufgabe für die Zukunft ist klar und sollte in absehbarer Zeit angegangen werden. Der restliche Abraum, welcher teilweise wieder in die Höhle gefüllt wurde, muss neu gegraben und das noch enthaltene Fundmaterial geborgen werden. Der gesamte Fundkomplex einschließlich der Altfunde erfordert dann eine neue Aufnahme und Auswertung, wobei auch eine große Zahl neuer Altersdatierungen sowie aDNA-Analysen von hoher Bedeutung sind. So sollten u.a. die männlichen Individuen und die Frau mit dem Schädeltrauma datiert werden, möglicherweise fallen genau diese in die spätmesolithische oder jung-/spätneolithische Belegungsphase. Nach und nach könnten so noch manche Rätsel um die Jungfernhöhle bei Tiefenellern gelöst werden, welche bis heute keinesfalls ihren wissenschaftlichen Reiz verloren hat.