- Sebastian Kempgen

Kiev oder Kyjiv?

Wie schreibt man eigentlich ukrainische Städtenamen richtig? Ein Blog-Beitrag von Alisa Müller.

Richtig oder falsch, international, lokal (ukrainisch) oder (wie gewohnt) nach russischer Tradition? Mit historischer Überlegung oder streng synchron? Mit Berücksichtigung der ukrainisch-russischen Zweisprachigkeit in der Ukraine oder nicht?

Einen ausführlichen Kommentar zu dieser u.a. für alle Medien wichtigen Frage hat Alisa Müller, Doktorandin der Slavischen Sprachwissenschaft, verfaßt, und zwar hier. (Aus ihrer Feder stammt übrigens auch ein früherer Beitrag zur Frage "Weißrussland oder Belarus?")

Zu den historischen Fakten, die bei der angeschnittenen Frage relevant sind, unten ein Bild, und zwar aus der sog. Radziviłł-Chronik aus dem 13. Jh., erhalten in zwei Abschriften aus dem 15. Jh. Das ist die Zeit, die zwar in russischer Terminologie meist einfach "altrussisch" genannt wird, dann aber eigentlich nur mit 1 "s" geschrieben werden dürfte, denn gemeint ist hier die Zeit der "Alten Rus'".

Ein anderer, im Westen verbreiteter Sprachgebraucht nennt diese Phase vor der Entstehung der drei ostslavischen Einzelsprachen Russisch, Belarusisch und Ukrainisch auch "Altostslavisch". Damit soll zum Ausdruck kommen, daß im ostslavischen Raum um diese Zeit ein gemeinsames Idiom gesprochen wurde, sich also noch keine Einzelsprachen entwickelt hatten. Das beginnt erst - infolge der politischen Entwicklungen - mit dem 15. Jh.

Jedenfalls: Im Ostslavischen vor der Entstehung der drei heutigen Einzelsprachen wurde Kiev kyrillisch korrekt Києвъ geschrieben. Das zeigt die Miniatur, in der nämlich die Gründung Kievs durch 4 Geschwister thematisiert wird. Der Name der neugegründeten Stadt steht am Zeilenende (unterstrichen). [Die legendäre Gründung Kievs war übrigens Thema der Abschiedsvorlesung von Prof. Kempgen]

Wieso ist das Zitat eigentlich mit Києв wiederzugeben und nicht mit Киев? (Der Auslaut ist später aus der Orthographie verschwunden.) Wenn man genau hinschaut, dann sieht man, daß das Altostslavische "zwei e's" hatte, ein schmales und ein breites. Das breite steht im Wort "Kiev", das schmale sieht man im Wort vorher, "narekoša". Aus dem "schmalen e" ist dann später das heutige "russische е" geworden, das breite ist geblieben, wie es war (und wird weiterhin im Ukrainischen verwendet). Zwischen beiden Buchstaben gab es im Altostslavischen einen Unterschied in der Aussprache: das є steht für [je], das е für [e]. (Im Russischen hat das "normale e" später beide Funktionen übernommen: nach Konsonanten zeigt es heute die Erweichung des Konsonanten + [e] an, nach Vokalen die Lautfolge [je].)

Ob aber diese Feinheiten der mittelalterlichen kyrillischen Orthographie von allen Schreibern und in jedem Text genau beachtet wurden, wäre noch wieder eine andere Frage - die aber zu verneinen ist. Und deshalb gilt auf jeden Fall: man kann die deutsche Schreibung "Kiew" (nach Duden) oder "Kiev" (wissenschaftlich) ohne schlechtes Gewissen verwenden, entweder weil man a) 'Kiew' als deutschen Eigennamen betrachtet und/oder b) weil man die historische Schreibung der Stadt als Basis hernimmt. So ja auch ein Ergebnis des Blogbeitrages.

> KIEW / KIEV <