Gusseiserne Konstruktionen in den Dachtragwerken des Winterpalastes der Eremitage in St. Petersburg – bauhistorische und bautechnische Untersuchungen

 

 

Bearbeiter: Dipl.-Ing. Karen Veihelmann

Betreuer: Prof. Dr.-Ing. Stefan Breitling

Beteiligte Institutionen: Brandenburgische Technische Universität Cottbus, Technische Universität Karlsruhe, Staatliche Eremitage St. Petersburg, Gesamtprojekt gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bearbeitung: September bis Dezember 2009

 

Kontext:

Nach dem Brand des Winterpalastes im Dezember 1837 wurden die Gebäude der Eremitage sowohl in den Dächern als auch in den Decken mit einem dichten Netz an eisernen Konstruktionen durchzogen. Diese sind ein technikgeschichtlich einzigartiges und zugleich in großen Teilen original erhaltenes Zeugnis aus der frühen Zeit des Stahlbaus. Im Gegensatz zu den zur damaligen Zeit spektakulären und innovativen schmiedeeisernen Decken- und Dachtragkonstruktionen in den anderen Bereichen des Winterpalastes fehlen in den Archivbeständen alle entsprechenden Unterlagen zu der gusseisernen Substruktion des ehemaligen Glockenturms der Großen Schlosskirche. Diese Besonderheit ließ vermuten, dass die Konstruktion von vor dem Brand stammen könnte und ließ eine Bauuntersuchung vor Ort mit modernen Methoden besonders aufschlussreich erscheinen.

Methoden

Die Bauaufnahme wurde in erster Linie mittels eines Tachymeters ausgeführt. Dies ist insbesondere durch die örtlichen Gegebenheiten begründet, die ein Erreichen aller Teile der Konstruktion unmöglich machten. Ergänzt wurden die tachymetrischen Aufnahmen durch Handaufmaße der Knoten- und Auflagerpunkte. Die so gewonnenen Daten wurden dann in CAD-Zeichnungen zusammengeführt. Im Anschluss erfolgte die konstruktive Bestandsaufnahme, die die visuelle Begutachtung aller erreichbaren Bereiche beinhaltet. Hierbei wurde insbesondere auf Mängel, Schäden, Imperfektionen, Aufschriften, Stempel und sonstige Besonderheiten geachtet. Diese Befunde wurden in Skizzen festgehalten, vermessen und fotografiert, um dann katalogisiert zu werden. Auf diese Weise ist der Zustand der Konstruktion zum Zeitpunkt der Bauaufnahme umfassend dokumentiert.

Ergebnisse:

Die Existenz des Glockenturms konnte u.a. durch Fotografien und Zeichnungen zweifelsfrei belegt werden. Durch statische Überlegungen sowie unter Einbeziehung von Spuren an den Konstruktionen konnte ein Rekonstruktionsvorschlag des Standortes des Glockenturms der Großen Schlosskirche erarbeitet werden. Grundsätzlich ist die Verwendung von Gusseisen statt dem damals „modernen“ Schmiedeeisen vermutlich darauf zurückzuführen, dass der Glockenturm dynamische Lasten auf die Unterkonstruktion aufbrachte. Durch die örtlichen Gegebenheiten musste der Raum überspannt werden, die Lasteinleitung in die Unterkonstruktion erfolgte exzentrisch. Auf Grund der komplizierten Randbedingungen wurde auf das Material Gusseisen zurückgegriffen, in dessen Anwendung man noch eine größere Sicherheit hatte.
Des Weiteren konnten Imperfektionen an den Konstruktionen wertvolle Hinweise zur Fertigungsweise der Träger liefern. Sichtbare Nahtstellen weisen darauf hin, dass mehrteilige Holzmodelle gefertigt wurden, die dann wiederum - in Sand gedrückt - die Form für den Guss ergaben. Die rauen Oberflächen der Träger zeigen, dass alle Träger in der gleichen Lage gegossen wurden.

Einschätzung zur Bauzeit:

Die Möglichkeit, dass die Konstruktion noch von vor dem Brand stammt, ist als äußerst unwahrscheinlich zu werten. Der Brand brach im Kleinen Thronsaal aus, dieser liegt in unmittelbarer Nähe zum untersuchten Raum. Bei einer überlieferten Dauer des Brandes von über 30 Stunden und bei einer überlieferten Totalzerstörung des Kircheninnenraums sowie bei Betrachtung der Tatsache, dass Gusseisen bei Hitzeeinwirkung die Tragfähigkeit verliert, kann diese Möglichkeit nahezu ausgeschlossen werden.

Zusammenfassung:

Auch wenn die untersuchte gusseiserne Konstruktion zweifelsohne seit jeher im Schatten der vielbeachteten schmiedeeisernen Tragwerke in den Dächern und Decken des Winterpalastes steht, so steht sie doch als Sinnbild für einen Wendepunkt in der Geschichte des Stahlbaus: den Umbruch von der Verwendung des Werkstoffes Gusseisen zu Schmiedeeisen. Somit leistet die Vertiefung der Kenntnisse über die Gusseisenkonstruktion des ehemaligen Glockenturms der Großen Schlosskirche im Winterpalast einen wichtigen Beitrag zu den Forschungen zu den Dachwerken der Eremitage in St. Petersburg und zum Eisenbau in Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

V/2010