Wir schreiben das Jahr 1927 in der noch jungen Sowjetunion. In der Provinzstadt N – der volle Name des Kaffs tut nichts zur Sache – eröffnet Klavdija Ivanovna Petuchova auf dem Sterbebett ihrem Schwiegersohn Ippolit Matveevič Vorobjaninov das Unglaubliche: Sie hat die Juwelen aus dem Nachlass der Verwandtschaft in einen von zwölf gepolsterten Stühlen eingenäht, die der Familie einst gehörten, aber nach der Revolution beschlagnahmt wurden. Vorobjaninov, den die neuen Herrscher als früheren Adligen zum Standesbeamten in der trostlosen Provinz degradiert haben, wittert seine Chance: Wenn er die Stühle wiederfindet, gehören die Brillanten ihm, glaubt er.

Auf der Suche nach den Schätzen und einem besseren Leben kehrt er in seine frühere Heimatstadt zurück. Dort angekommen, lernt er in einer schäbigen Pension den jungen, raffinierten, redegewandten Gauner Ostap Bender kennen, der sich „der große Kombinator“ nennt. Vorobjaninov – Spitzname „Kisa“ – weiht Bender in sein Geheimnis ein.

Zusammen begeben sich die beiden auf eine chaotische, groteske und teils saukomische Jagd nach den Stühlen, die sie durch nahezu die halbe Sowjetunion führt. Was Vorobjaninov nicht wusste: Seine Schwiegermutter hat auch Pater Fjodor Vostrikov in ihr Geheimnis eingeweiht – und der Geistliche ist dem irdischen Reichtum alles andere als abgeneigt. Es beginnt ein Wettlauf um die Stühle zwischen den beiden Gaunern einerseits und dem Priester andererseits.

Außerdem muss Vorobjaninov feststellen, dass auch Mitstreiter Bender seine eigenen Interessen hat. Immer höher wird der Anteil am Reichtum, den der zwielichtige „große Kombinator“ für sich reklamiert. In einem grausamen Finale in einem Arbeiter-Kulturklub an der Peripherie des Riesenreiches hält sich Vorobjaninov schon für den alleinigen Besitzer der Diamanten – doch schlussendlich steht er mit leeren Händen da.

„Zwölf Stühle“ (im Original „Двенадцать стульев“) ist einer der berühmtesten Romane der sowjetischen Literatur. Etliche Zitate aus dem Werk sind im russischsprachigen Raum zu geflügelten Worten geworden – so zum Beispiel Benders Satz „Das Eis ist gebrochen, meine Herren Geschworenen!“ („Лёд тронулся, господа присяжные заседатели!“), den er jedes Mal ausruft, wenn sich auf der Suche nach den Stühlen eine neue Spur aufzutun scheint. Mehr als ein Dutzend Filme – unter anderem aus Kuba, dem Iran und dem Dritten Reich – basieren auf dem Roman. Es geht um die Absurditäten des nachrevolutionären Alltags und die Kreativität der Menschen, wenn es gilt, diese Absurditäten im eigenen Sinne zu nutzen. Es geht um Geldgier, Bestechlichkeit, um kleine und etwas größere Betrügereien – aber auch darum, dass Geld allein im Kommunismus oft nicht weiterhilft.

Am 5. und 6. Juli 2013 hat „ArtEast“, die russischsprachige studentische Theatergruppe der Uni Bamberg, den hinreißenden Roman der beiden aus Odessa stammenden jüdischen Autoren Il`ja Il`f und Evgenij Petrov auf die Bühne gebracht. Bei beiden Aufführungen im „Treff“, der kleinsten Bühne des E.T.A.-Hoffmann-Theaters, waren alle 99 Plätze besetzt. „Ausverkauft“ wäre das falsche Wort, denn der Eintritt war kostenlos. Beim Erwerb der Karten im Vorverkauf waren lediglich zwei Euro Pfand zu entrichten, die die Besucher beim Eintritt zurückbekamen.

Vier bis fünf Monate verbrachte das aus knapp 20 Darstellern bestehende Ensemble damit, den Roman zum Theaterstück umzuschreiben und einzustudieren. Eine Besonderheit: Die Rolle des Ostap Bender spielte eine Frau.

Der Reaktion des Publikums nach zu urteilen, scheint sich der Aufwand gelohnt zu haben. Ob Benders wilde Hochzeit mit der Besitzerin eines Stuhls, der Streit eines bettelarmen Studentenpaares über Sinn und Unsinn des Fleischkonsums oder die einfältig-einsilbige Ingenieursgattin Elločka Ščukina, die zur Konversation nicht mehr als 30 Wörter braucht: Szenenapplaus und Gelächter waren „ArtEast“ an beiden Abenden sicher. Auch spendeten die Zuschauer im Anschluss an beide Aufführungen großzügig.

Am Ende von „Zwölf Stühle“ fällt Ostap Bender einem Mord zum Opfer. Doch im Nachfolgeroman „Das goldene Kalb“ („Золотой телёнок“)  ist der charmante Betrüger wieder quicklebendig. Eines ist sicher: Genauso wie Bender wird auch ArtEast auf die Bühne zurückkehren. PHILIPP DEMLING

Fotografien von Carolin Cholotta, Catherina Gunreben und Catherina Geib