Gastvortrag Dr. Susanne Ritschel (TU Dresden)

»Portugiesische Krisendokumente«

Bamberger Vorträge zu Iberian Studies

Bamberg, am Montag, 18. Januar 2016.

Am 18. Januar 2016 fand ein von der Professur für Romanische Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Hispanistik organisierter Gastvortrag mit dem Thema »Portugiesische Krisendokumente« im Rahmen der Lehrveranstaltung »Iberische Erinnerungskulturen« statt. Zum Vortrag der Romanistin und Kunsthistorikerin Dr. Susanne Ritschel (TU Dresden), der in deutscher Sprache stattfand, erschienen zahlreiche Studierende wie Dozierende.

Am 18. Januar 2016 führte Susanne Ritschel Studierende, Dozierende sowie Gäste anhand mannigfaltiger Dokumente und Medien mit dem Vortrag »Portugiesische Krisendokumente«, der sich mit der Verarbeitung der namensgebenden Wirtschaftskrise in Portugal beschäftigte, durch den Abend. Ritschel, die sich unter anderem schwerpunktmäßig mit Themengebieten wie der sephardischen Diaspora und Topographien, romanischen Krisennarrativen und der Aufarbeitung von Diktaturen beschäftigt, arbeitete dabei interdisziplinär mit Musik, Fotografie, Literatur und Film.

Die Gastrednerin, die im Frühjahr 2015 bereits vor Ort in Portugal zum Thema Fotografie geforscht hatte und einen zweiten Aufenthalt plant, bei dem sie sich vor allem mit dem Medium Film beschäftigen will, betonte eingangs, dass es in Portugal aktuell ein akutes Interesse daran gäbe, sich mit dem Themenkomplex der Wirtschaftskrise künstlerisch auseinanderzusetzen, um ihn so in die portugiesische Erinnerungskultur zu überführen; dies geschehe, so Ritschel, sowohl aus künstlerischen wie dokumentarischen Zwecken. So ist der Gegenstand ihres Interesses vornehmlich die Repräsentation und Verarbeitung der Krise, mehr noch als die Krise an sich aus ökonomischer Sicht. Ihre Arbeiten beschäftigten sich unter anderem mit Krisen als Innovationsraum, damit, welche Mittel es zur Umschreibung der Krise gäbe und welche Spezifika der künstlerischen Darstellungen man herausarbeiten könnte. Die Romanistin führte weiterhin an, dass sie im Verlauf ihrer Forschungen selbstverständlich auch den Vergleich zwischen Portugal und dem Nachbarland Spanien gezogen habe. Anfangs habe sie mit ähnlichen Auseinandersetzungsweisen und -arten mit der Krise gerechnet, führte jedoch an, dass die Realitäten in beiden Staaten überraschend unterschiedlich seien: Während man sich in Spanien leicht lesbarer und sehr direkter Kunstformen und -aktionen bediene, sei in Portugal eine gewisse Latenz der Krise zu spüren, die Repräsentationen seien weniger offensiv, weniger kritisch.

Der Schwerpunkt von Ritschel liegt bei ihren Betrachtungen vor allem auf der Beschäftigung mit der Fotografie; hierbei geht sie Fragen nach wie »Wer repräsentiert (in Bezug auf die Krise) wen in welcher Weise und mit welcher Absicht?«, »Auf welche fotografischen Konventionen wird dabei zurückgegriffen?« oder spezifischer »Wie wird die Gegenwart der Krise in Portugal gezeigt?«. Gibt es dabei Grenzen, Nicht-Gezeigtes, Verstecktes oder gar Nicht-Darstellbares?

Den Einstieg in den praktischen Teil des Vortrags bildete das Themengebiet der Musik. Ritschel stellte hierbei den Song »Povo que cais descalço« der Band Dead Combo vor, die, wie sie dem Publikum mitteilte, augenblicklich eine breite Rezeption in Portugal erfährt. Nach einer ersten Vorführung des Musikvideos zu »Povo que cais descalço« arbeitete Ritschel interaktiv mit den Anwesenden und befragte sie zu deren Eindrücken und Assoziationen. Zusammen wurde so die Darstellung der Krise in besagtem Video analysiert – diese reichte unter anderem von einem Graufilter über dem gesamten Video, der nur Rot und Grün, also die Farben Portugals, durchscheinen ließ, die ständige Anwesenheit von Themen wie Weite, Verlassenheit und Einsamkeit bis hin zu Aufnahmen von leerstehenden Häusern und Ruinen als plakativste Repräsentationsform.

Den zweiten Teil bildete ein Block zum Spezialgebiet der Gastrednerin, der Fotografie. So stellte sie dem Publikum das Fotoprojekt »Projecto Troika« aus dem Jahr 2014 vor, an dem acht renommierte portugiesische FotografInnen und ein Dokumentarfilmer beteiligt waren und das durch Crowdfunding finanziert wurde. Im Fokus von Ritschels Gastvortrag stand hierbei die Fotografin Lara Jacinto, deren Kapitel im Bildband, der als Ergebnis der Projektes veröffentlicht wurde, den Titel »> 350.300« trägt und sich somit mit dem Thema Migration bzw. Emigration auseinandersetzt. So reiste Jacinto durch das Land und hielt besondere Momente des Abschieds fotografisch fest; dies zeigte Ritschel auch anhand mehrerer Fotografien, die sie zusammen mit den Anwesenden beschrieb, besprach und analysierte; auf einem war beispielsweise ein entwurzelter Baum, auf einem anderen ein Familienvater, der Frau und Kind verlassen muss, zu sehen. Zur Vervollständigung des Bildes, das die Gastrednerin zeichnete, stellte sie auch noch weitere Fotografien vor und kontextualisierte diese; unter anderem handelte es sich dabei um Aufnahmen von den Fotografen Luís Coelho (»Não passamos de números«) und Paulo Pimenta (»Projecto Troika«), die Betroffene, Obdachlose und Bettler zeigten oder auch um Bilder, die sich mit dem Themenkomplex der Alten- und Krankenpflege bzw. dem Altern im Allgemeinen im Kontext der krisenbedingten Armut bzw. Altersarmut beschäftigten. Abschließend fasste Ritschel nochmals treffend zusammen, dass »Projecto Troika« konzeptuell angelegte Räume eröffnete, die auf etwas Metaphorisches oder Emblematisches verweisen; die Fotografien der Projekts könnten, so die Romanistin und Kunsthistorikerin, ihre Bedeutung erst durch die assoziative Konfiguration innerhalb des Gesamtzusammenhangs und durch das Beimischen eines gewissen Momentes der Fiktionalisierung entfalten.

Abschließend gab Dr. Ritschel noch einen Ausblick auf die Medien Literatur und Film. Hierbei stellte sie dem Publikum das 2012 erschienene Werk O Banquete von Patrícia Portela vor, das das große Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 thematisiert. Auch hierbei handelte es sich wie bei der Wirtschaftskrise um eine einschneidende Katastrophe für Portugal, einen Moment, in dem es vorrangiges Ziel war, die gesellschaftliche Handlungskapazität wiederzuerlangen. Der Haupterzählstrang berichtet hierbei von den persönlichen Problemen der Protagonistin, also einem Einzelschicksal innerhalb dieser kollektiven Krise. Es wird dabei außerdem auf die Grenzen der Mess- und Vorhersehbarkeit von Krisen und Katastrophen verwiesen und so sind viele der narrativen Muster und Deutungsstrukturen ohne weiteres auf die wirtschaftliche Krise und die Gegenwart übertrag- und deutbar. Abschließend führte Ritschel noch den Trailer von O inquieto, dem ersten Teil der Trilogie As mil e uma noites von Miguel Gomes aus dem Jahre 2015 vor. Hierbei wird die Krise auf eine metafiktive Ebene erhoben, deren Rahmen die Geschichte von Scheherazade bildet, in den eine Art der Verarbeitung der wirtschaftlichen Krise eingewebt ist. So komplettierte Susanne Ritschel letztlich das von ihr aus vier Perspektiven skizzierte Bild der gegenwärtigen dokumentarischen und künstlerischen Krisenverarbeitung in Portugal und der Erweiterung der Erinnerungskultur mit der filmischen Dimension.

 (von Florian Lützelberger, Januar 2016)