Gastvortrag der Komparatistin Dr. Elisa Kriza (Mexiko)

»¡Todo es posible en la paz! Ironie und Empörung in der Literatur zum Massaker von Tlatelolco (Mexiko, 1968)«

Bamberger Vorträge zur Lateinamerikanistik

Bamberg, am Mittwoch, den 6. Mai 2015.

Elisa Kriza, ursprünglich aus Guadalajara in Mexiko, studierte an der FU Berlin und wurde an der Universität Aarhus in Dänermark mit der Arbeit Alexander Solzhenitsyn: Cold War icon, Gulag author, Russian nationalist? A study of the Western reception of his literary writings, historical interpretations, and political ideas promoviert.Frau Kriza sprach im Rahmen des an der Professur für Romanische Literaturwissenschaft/Hispanistik angesiedelten Forschungsprojekts »Schmerz und Empathie nach den Iberoromanischen Diktaturen: Narrationen, Filme und andere Kunstformen«.

»Alles ist möglich im Frieden« (¡Todo es posible en la paz! ) war der Slogan der Olympischen Spiele 1968 in Mexiko, der in den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und den staatlichen Ordnungskräften eine makabre Wendung als tragisch-ironisches Motto von Mexikos 68er Jahr erfahren sollte, ehe die Spiele überhaupt begonnen hatten. Bereits am 22. Juli 1968 wurde ein Streit zwischen einer privaten und einer öffentlichen Schule gewalttätig und symptomatisch für die stark ökonomisch segregierte Gesellschaft Mexikos. Verbunden mit der Wut auf die hohen Ausgaben für die anstehenden Spiele und auf die Parteidiktatur des PRI entwickelte sich ein heißer Sommer, in dem immer mehr Menschen auf die Straßen gingen, um für Demonstrationsfreiheit einzutreten und für die Absetzung des Polizeichefs zu demonstrieren. Nachdem das Militär daraufhin die beiden größten Hochschulen des Landes besetzte, reichte der Vorwand von Schüssen aus der Menge, damit am Ende des 2. Oktobers geschätzte 300 bis 400 Menschen ihr Leben auf dem Platz von Tlatelolco gelassen hatten.

Das Ereignis, das aus der Sehnsucht nach mehr Demokratie und Partizipation in Bildung und Politik geboren war, gilt zwar als Wendepunkt für einen Demokratisierungsschub in der Geschichte Mexikos, wurde aber in seinen Nachwirkungen erst langsam aufgearbeitet. So ergaben sich auch die bis heute recht unterschiedlichen Bewertungen eines Ereignisses, das erst 1977 in der Presse als Massaker oder Massenmord bezeichnet wurde. Aus einer Erinnerungskultur als Anklage von 1969 an wurde mit zunehmender Distanz eine Erinnerungskultur des Lobs für die Gefallenen der Demokratie. Die Bewegung wurde zunehmend als „demokratisch“ umgedeutet und vereinnahmt, um sozialistische oder kommunistische Motivationen der Demonstranten außer Acht lassen zu können. Alle Parteien entdeckten auf einmal die Nützlichkeit der Erinnerungskultur, sogar Politiker der ehemals eigentlich verantwortlichen PRI, deren Nachfolgegeneration sich damit von ihren Vorgängern absetzen konnte, bis es 2007 zur Eröffnung eines Museums und 2008 sogar zur Etablierung eines nationalen Trauertags für die Gefallenen der Demokratie kam.

Im zweiten Teil ihres Vortrags stellte Frau Kriza Erinnerungsliteratur von Schriftstellern vor, die sich des Themas in der Form von Zeugnisliteratur, in Essays oder belletristisch annahmen. Octavio Paz, der seinen Posten als Botschafter in Indien nach dem Massaker aus Protest niederlegte, sprach sich in Posdata (1970) ebenfalls dafür aus, dass es sich um keine revolutionäre oder gar marxistische, sondern demokratische Bewegung gehandelt habe. Elena Poniatowska schrieb mithilfe von Zeugeninterviews und Fotosdie wohl bekannteste Chronik des Ereignisses, La noche de Tlatelolco (1971), und lehnte einen Preis für das Werk mit der Begründung ab, dass diejenigen schon tot seien, denen er gebührt. Die Romane von René Avilés Fabila El gran solitario del palacio (1971) und Los símbolos transparentes (2013) von Gonzalo Martré lassen die bittere Wut über die Geschehnisse selbst in humoristischen Passagen noch deutlich erkennen, wohingegen in Armando Ramírez’ Chin chin el teperocho (1971) aus der Sicht eines vollends Deklassierten die Tumulte eher als Luxusproblem der Mittel- und Oberschicht geschildert werden.

Auch wenn die Anerkennung des Massakers als Unrecht nicht mehr hinterfragt wird, fehlt weiterhin eine komplexe Auseinandersetzung mit den Motiven der Demonstranten und der Rolle einzelner Organisationen, die aber aus Angst, die „Heldenhaftigkeit“ der Opfer könnte in Frage gestellt werden, weiterhin kaum stattfindet. Tlatelolco bleibt ein vielschichtiges Phänomen im Spannungsfeld ideologischer Vereinnahmungen, aber auch ein Indikator dafür, wie sehr sich die mexikanische Gesellschaft seitdem verändert hat.

 (von Arndt Lainck, Mai 2015)