[Gastvortrag] Laboratorien des Gewissens: Gewissensgerichte als transkonfessionelles und transkulturelles Phänomen im Russischen Imperium, 1775–1866
Der Vortrag diskutiert die russischen Gewissensgerichte (sovestnye sudy, 1775–1866) als ein transkulturelles Experiment im Umgang mit Strafrecht, Moral und gesellschaftlicher Verantwortung. Diese bislang wenig beachteten Institutionen entstanden im Rahmen des Provinzstatuts Katharinas II. und sollten „Barmherzigkeit und Gerechtigkeit vereinen“. Ihre Besetzung über alle Stände hinweg und ihr Fokus auf die moralische Urteilskraft der Angeklagten machten sie zu einem einzigartigen rechtlichen Laboratorium der Aufklärung. Der Vortrag zeigt, dass die Gewissensgerichte nicht allein auf englische courts of equity zurückgingen, wie die Forschung häufig annimmt. Ebenso prägend waren ukrainische Rechtspraktiken, insbesondere das Schiedsgericht (tretejskij sud) sowie der Kodex, nach dem das kleinrussische Volk gerichtet wird (1743), ein hybrides Kompilat europäischer und lokaler Rechtstraditionen. Obwohl die Gewissensgerichte 1864 abgeschafft wurden, wirkte ihr Denken fort – sowohl in
nachfolgenden lokalen Gerichten als auch in Debatten über Strafe und Moral, die Autoren wie Dostoevskij und Tolstoj sowie die führenden Juristen des 19. Jahrhunderts prägten. Der Vortrag beleuchtet diese Gerichte als Knotenpunkt transkultureller Einflüsse und als frühe Form einer rechtsphilosophischen Auseinandersetzung mit Gewissen und Verantwortung im Russischen Kaiserreich.
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Professur für Slavische Kunst- und Kulturwissenschaft ○ Prof. Dr. Jeanette Fabian
Lehrstuhl für Slavische Literaturwissenschaft ○ Prof. Dr. Christian Zehnder
Lehrstuhl für Slavistik (Würzburg) ○ Prof. Dr. Gesine Drews-Sylla

