Evangelische Soziallehren


EKD für einen Kombi-Lohn und verstärkte Steuerfinanzierung der staatlichen Sicherungssysteme

FAZ 12. Juli  FAZ.net 11. Juli


Gri. BONN, 11. Juli. Für eine verstärkte Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland hat sich der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ausgesprochen. Die Arbeitsverhältnisse müßten mehr als bisher von der Belastung durch Sozialabgaben befreit werden, die sich immer mehr als "Arbeitsplatzvernichter" erwiesen. Durch geringere Sozialabgaben erhalte die Wirtschaft eine größere Flexibilität und könne neue Arbeitsplätze schaffen. Bei der Vorstellung der ersten EKD-Denkschrift zur Armut in Deutschland "Gerechte Teilhabe. Befähigung zur Eigenverantwortung und Solidarität" am Dienstag in Berlin sagte der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, den armen Menschen in Deutschland werde am wirkungsvollsten mit einer Integration in den Arbeitsprozeß geholfen. Armut in einem reichen Land wie Deutschland sei ein Skandal und müsse entschlossen bekämpft werden.


Der Rat fordert in dem Grundsatzpapier, geringer bezahlte Arbeitsplätze staatlich zu fördern und dafür die Entlohnung durch Transfers ("Kombi-Lohn") aufzustocken. Ein solcher sozial abgesicherter Niedriglohnsektor könne die Arbeitslosigkeit verringern, müsse aber so klein wie möglich bleiben. Für Langzeitarbeitslose dürften staatlich geschaffene Arbeitsplätze in einem "zweiten oder dritten Arbeitsmarkt" kein Tabu sein. Solche Arbeitsplätze müsse es auf Dauer auch für Menschen geben, die nicht nach den Leistungsmaßstäben des Marktes ausgebildet werden könnten oder mit Behinderungen lebten. Für Bürger, die nicht mit dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen rechnen könnten, müsse der Staat ein "soziokulturelles Existenzminimum" sichern. Mit Besorgnis registriere die evangelische Kirche das Ansteigen von versteckter Armut, von der mittlerweile jeder siebte Deutsche betroffen sei.

Der Rat fordert einen entschiedenen Umbau des Sozialstaates, damit dieser auch künftig die Teilhabemöglichkeiten der Ärmeren und so den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft sichern könne. Dabei sei nicht "Umverteilung" gefragt, sondern intelligente Kombinationen von ökonomischer Effizienz und sozialer Sicherung.

Nach Ansicht des Rates reicht die traditionelle Bestimmung der Armutsgrenze mit der Hälfte des Durchschnittseinkommens der Bevölkerung keinesfalls aus. Armut sei weit mehr als nur ein Mangel an Einkommen. Sie sei mangelnde Teilhabe an der Gesellschaft, Ausschluß von Lebenschancen und vom politischen Geschehen. Aus ethischen Gründen müsse es für jeden möglich sein, mit einem hinreichend bezahlten Arbeitsplatz für sich und die eigene Familie sorgen zu können und ein eigenständiges Leben zu führen. Aus christlicher Perspektive müsse alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft daran gemessen werden, ob es die Armen betreffe, ihnen nütze und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähige. "In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe", heißt es in der Denkschrift.

Die entscheidende Voraussetzung zur Überwindung von Armut seien Bildung und Ausbildung der Menschen. Allein sie böten in komplexen Gesellschaften die Chance, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Bildungspolitik müsse deshalb "weit mehr als bisher" als Sozialpolitik verstanden werden. Das deutsche Schulsystem schütze im Ergebnis zu wenig vor Armut und weise Auswahlstrukturen auf, die materielle, kulturelle und soziale Trennungen fortführten. Um ein Bildungssystem zu schaffen, das Armut verringere, müsse das dreigliedrige Schulsystem kritisch hinterfragt werden. Es sei notwendig, "Chancengerechtigkeit" auf allen Ebenen der Bildung herzustellen. Die Gesamtschule sei nur dann die schlechteste Lösung und werde zur Restschule für Bildungsverlierer, wenn sie neben Gymnasium, Realschule und Hauptschule angeboten werde. Eine gemeinsame Schulbildung müsse aber der individuellen Förderung besonders begabter Schüler nicht entgegenstehen. "Solange explizit oder insgeheim Auslese und Elitebildung gegen Breitenförderung ausgespielt wird, wird sich die Situation nicht verändern", heißt es in der Denkschrift. Auch das Sitzenbleiben oder das Verlassen einer Schule trage eher zur Stigmatisierung der betroffenen Schüler bei als zu ihrer Förderung.

Angesichts der Tatsache, daß Armut in Deutschland zu oft weitervererbt werde und so "Sozialhilfekarrieren" bis in die dritte Generation entstünden, komme der Förderung von Familien eine besondere Bedeutung zu. Die EKD fordert deshalb einen kostenlosen Zugang zu Kindertagesstätten und schlägt vor, einen "Kinderzuschlag" einzuführen. Dieser solle gering verdienende Eltern für wenige Jahre befristet zugute kommen, die mit ihren eigenen Einkünften zwar ihren eigenen Unterhalt, nicht aber den der Kinder finanzieren könnten.

Die Denkschrift stellt auch grundsätzliche Annahmen bei der Festlegung der Höhe des Arbeitslosengeldes II in Frage. So werde nicht richtig bemessen, was Kinder zum Leben benötigten, und im Gegensatz zu dem früheren System könne nicht mehr auf individuelle Familienverhältnisse eingegangen werden. Auch sei die Höhe des Regelsatzes des Arbeitslosengeldes II im Jahr 2005 netto geringer als das, was Langzeitarbeitslose 2003 an staatlicher Hilfe erhalten hätten. Eltern müßten wegen der zurückgehenden Finanzmittel von Ländern und Kommunen stärkere finanzielle Verantwortung für die Ausbildungs- und Betreuungskosten ihrer Kinder übernehmen. Diese Mehrausgaben hätten aber bei der Berechnung des Sozialhilfesatzes nicht zur Diskussion gestanden.