Soziologie der Antike – Antike Soziologie

 

In diesem Projekt wird der These nachgegangen, dass das antike Griechenland eine eigene Form der Gesellschaftsreflexion gekannt hat, für die spezifisch soziale Rationalitätskriterien entwickelt wurden. Im Unterschied zu den Formierungen komplexer Gesellschaften seit der Eiszeit kommt das sozial-politische Denken im antiken Griechenland ohne jene religiösen Konstruktionen aus, die allem Anschein nach für die Stabilisierung kooperativer Strukturen unverzichtbar sind. Das heißt selbstverständlich nicht, die Griechen hätten keine Religion gekannt. Entscheidend und prägend für ihr soziales Denken war ihr ausgeprägt reflektierter Umgang auch und vor allem mit "Religion". Das genaue Gegenteil findet sich im antiken Judentum, wo aus "Religion" Gesellschaft gemacht wird und jeder Hinweis auf Reflexion und Konstruktion mit größter Sorgfalt vermieden wird.

Im Griechenland des 6. Jahrhunderts v. Chr. steht eine Reflexion der Polisgesellschaft unter jenem Begriff des Logos, der dann später zu einem Grund- und Schlüsselbegriff der Philosophie wird. Das Wort Logos fasst zunächst eine rationale, d. h. an der Realität orientierte Welt-Sicht und Weltaneignung. Damit verweist Logos auf eine generelle Berechenbarkeit der Bezüge, aus der Realität sich aufbaut. Mit dieser Berechenbarkeit wiederum verbindet sich die Vorstellung einer Gestaltbarkeit der Realität. Logos steht also für eine neues Bewusstsein und eine neue Weise, sich der Realität gegenüber zu verhalten: "Ein unerhört denkwürdiger Vorgang, der nie wieder ganz rückgängig gemacht worden ist" (Wolfgang Schadewaldt). Der Umstand der Sozialität ist mit dem Menschsein unauflöslich verbunden. Das ist eine Sache. Aber ob und wie ein reflektiertes Sich-ins-Verhältnis-setzen mit der sozialen Umwelt sich auch literarisch niederschlägt, also eine eigene kulturelle Form findet, ist freilich eine ganz andere Sache. Soziologie beginnt jedenfalls nicht mit der Prägung dieses Begriffs "Soziologie" durch Auguste Comte, der in seinem Neologismus Lateinisches und Griechisches zusammenzwingt.

In diesem Projekt wird also die These entwickelt, dass sich in der antiken Gesellschaft Griechenlands auch ein erstes, voll entwickeltes soziologisches Denken findet – ein soziologisches Denken vor allem deshalb, weil es als ein Wissen der Genesis, der Strukturierung und der Steuerung von Gesellschaft formuliert wurde. Dieses Denken kannte zwar keinen eigenen Begriff von "Gesellschaft". Aber die Art und Weise, wie in diesem Denken die Polis behandelt und begrifflich als Politeía (die Struktur) und Politika (die Praxis) zu fassen versucht wurde, hatte sehr viel mit dem zu tun, was seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als "Soziologie" präsentiert wird, und nur eingeschränkt mit dem, was den heute gebräuchlichen Begriff des Politischen ausmacht.  Das eigentlich erstaunliche an der Historiographie der Soziologie ist das fast vollständige Ignorieren ihres hellenischen Erbes. Denn hier haben wir eine Soziologie vor uns, die von dem kategorischen Unterschied zwischen Natur (physis) mit ihren Notwendigkeiten und sozialer Ordnung als normative Setzung (thésis) und der daraus folgenden Verhaltensregelmäßigkeit (ethos – Gewohnheit) ausgeht. Für die Sophisten – und Aristoteles steht in vielen Punkten durchaus zustimmend in ihrer Tradition – ist jede menschliche Ordnung das Ergebnis eines letztlich beliebigen Gestaltungswillens. Von dieser Einsicht ausgehend war es zwar nicht mehr weit zu der These, jede Ordnung und jedes Recht habe seinen Ursprung in der Macht des Stärkeren und diene allein seinen Interessen,  entscheidend aber für die weitere Entwicklung von Gesellschaft und Staat war aber eine doppelte Erkenntnis: es sind die Menschen selbst, die sich ihre Ordnung gestalten müssen, und aus dieser Ordnung folgen Zwänge, denen sich niemand entziehen kann – aber mit denen man rechnen kann. Die Ordnung der Gesellschaft wird zu einer Gestaltungsaufgabe der Politik, und Politik wird zu einem Prozess, in dem die Gesellschaft sich mit sich selbst auseinandersetzt: den Erhaltungs- und Funktionsbedingungen ihrer Ordnung. Ein Höhepunkt dieser gesellschafts-politischen Reflexion wurde schon früh mit den Reformen des Kleisthenes erreicht.

Vom Vorbild der antiken griechischen Gesellschaft ausgehend kann Soziologie als eine hinsichtlich der sozialen Träger wie der Inhalte autonome Form des Denkens bezeichnet werden: die Reflexion der Lebensführung im Blick auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen mit dem Ziel, ein sicheres Wissen über die Rückwirkungen der Gesellschaft auf sie selbst zu erreichen. Die Selbständigkeit dieses Denkens steht in enger Wechselwirkung mit der Selbständigkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Politische Formung der Gesellschaft und Ausbildung eines soziologischen Wissens bedingen sich gegenseitig. Vermittelt wird dieser Zusammenhang von der wesentlichen kritischen Funktion des soziologischen Sinns der Auseinandersetzung mit der Polis-Gesellschaft. Institutionelles Korrelat der Soziologie ist mithin das, was man ebenfalls seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als "Sozialpolitik" bezeichnet. Sozialpolitik zielt auf das Ganze einer Gesellschaft, die Voraussetzungen ihres inneren Zusammenhalts und die Bedingungen ihres längerfristigen Überlebens. Die Staatlichkeit der Polis lässt sich deshalb vor allem an der organisierten Fähigkeit ablesen, durch allgemein verbindliche Normen gezielt bestimmte gesellschaftliche Missstände zu beseitigen. Für die Gesellschaft des antiken Athens lässt sich damit der Beginn eines soziologischen Denkens genau bestimmen: die Reformen Solons zu Beginn des sechsten Jahrhunderts v. Chr. Mit diesen Reformen wird auf der Grundlage von öffentlich artikulierten Einsichten in die Funktionsbedingungen einer Polis in Entwicklungen eingegriffen, die bislang blind und hochgradig eigendynamisch verlaufen sind und die die sozialstrukturelle Grundlage der athenischen Gesellschaft zu zerstören drohten. Sozialstruktur, Wehrverfassung und Ordnung der Polis hängen eng miteinander zusammen. Die Politik muss, das ist im Kern die Einsicht Solons, um leistungsfähig zu sein einen Interessenausgleich in einer arbeitsteiligen Gesellschaft erreichen und dafür eine umfassende Handlungsfähigkeit im Ordnungsrahmen einer Gesellschaft schaffen.