Sind die Supermärkte Gewinner der Coronakrise?

Entgegen aller frohen Hoffnungen und Wunschvorstellungen, schon bald wieder zur Normalität übergehen zu können, stellt sich die nüchterne Sachlage anders dar. Das Coronavirus wird in nächster Zeit nicht verschwinden – ganz im Gegenteil.

Bislang sind in Deutschland circa 40.000 Infektionsfälle bestätigt (Stand: 26.03.). Dies sind bei 82,79 Millionen Einwohnern nur 0,048 % und selbst bei einer zehnfach höheren Dunkelziffer liegt der Anteil der Infektionen aktuell erst bei 0,48 % der Bevölkerung. Diese Zahlen lassen es utopisch erscheinen, bereits nach Ostern zum bekannten "business as usual" zurückzukehren. Dies gilt umso mehr, wenn es wie angestrebt gelingt, den Infektionsverlauf zu verlangsamen. Realistisch betrachtet wird die Coronakrise die Wirtschaft nicht nur über Tage und Wochen, sondern vielmehr über mehrere Monate prägen und trotz aller Hilfspakete tiefe Spuren hinterlassen und Opfer fordern.
Während sich die gesamtwirtschaftlichen Folgen aufgrund der starken Wechselwirkungen und komplexen Abhängigkeiten zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal ansatzweise seriös abschätzen lassen, sind die Auswirkungen für den Handel bereits jetzt greifbar. Durch die angeordneten Schließungen wurde Tausenden von Händlern die Geschäftsgrundlage entzogen. Eine Ausnahme zur Sicherung der Grundversorgung bildet neben Apotheken der Lebensmitteleinzelhandel. Durch die Hamsterkäufe der vergangenen Wochen sind dessen Umsätze stark gestiegen, weshalb Supermärkte in der öffentlichen Wahrnehmung sogar als eine der wenigen Krisengewinner erscheinen. Diese Einschätzung ist jedoch bei genauerer Betrachtung aus vier Gründen mehr als fraglich.

  • Erstens handelt es sich bei den überdurchschnittlich nachgefragten Produkten meist um Waren mit langer Haltbarkeit. Bestes Beispiel ist hierfür das neue „gefühlte“ Luxusgut Toilettenpapier. Da man trotz vermehrtem Homeoffice nicht davon ausgehen kann, dass in Zeiten von Corona die Anzahl der Toilettengänge im gleichem Maß wie die beobachteten Abverkäufe ansteigen, handelt es sich um keine zusätzlichen, sondern stattdessen um zeitlich verschobene Umsätze. Anders ausgedrückt: Das, was in diesen Tagen mehr in der Supermarktkasse ist, wird in der Zukunft fehlen.
  • Zweitens erfordert Corona seitens der Lebensmittelhändler einen enormen zusätzlichen Koordinations- und Organisationsaufwand, der zu zusätzlichen Kosten führt und die temporären Mehrumsätze relativiert.
  • Drittens ist anzuerkennen, dass trotz der enormen Anstrengungen viele Supply Chains aktuell gestört sind. So fehlen durch die Krise Produktions- und Transportkapazitäten, die Anzahl der Exportbeschränkungen wächst. In der Folge wird die Anzahl der leeren Regale in naher Zukunft nicht ab-, sondern eher zunehmen. Dies wird auch für den Lebensmitteleinzelhandel zu entgangenen Umsätzen führen.
  • Viertens – und langfristig der wahrscheinlich gewichtigste Grund – wird die Coronakrise zum Einfallstor für einen neuen, mächtigen Wettbewerber: Amazon. Unter anderem weil Edeka, REWE, die Schwarz-Gruppe, Aldi und Metro über mehr als 70 % Marktanteil verfügen und ihre Marktmacht gegenüber neuen Wettbewerbern voll ausspielen, gelten Lebensmittel im Onlinehandel als eine der schwergängigsten Warengruppen. Laut dem Marktforschungsunternehmen Nielsen werden von den mit Lebensmitteln umgesetzten 205,7 Mrd. Euro trotz starker Wachstumsraten bislang erst etwa 1,6 Mrd. Euro im Internet realisiert. War es für viele Verbraucher vor kurzem offensichtlich noch undenkbar, Lebensmittel im Internet zu bestellen, ändert sich dies aktuell grundlegend. Dabei ist zu beobachten, dass die Lieferdienste der etablierten Händler, offensichtlich aufgrund der aktuellen Turbulenzen, nicht in der Lage sind, die gesteigerte Onlinenachfrage auch nur im Ansatz zu bedienen. Sofern eine Zustellung überhaupt noch angeboten wird, beträgt die Lieferzeit aktuell mehrere Wochen.

Dies führt zu enttäuschten Kunden, die nach Alternativen suchen. Amazon hat die sich darbietende Chance erkannt, in das umsatzträchtige Segment einzudringen, und bevorzugt aktuell Bestellungen von Lebensmitteln: "Unsere Teams arbeiten mit Hochdruck um sicherzustellen, dass unsere Kundinnen und Kunden Artikel des täglichen Bedarfs dann erhalten, wenn sie sie benötigen. Aus diesem Grund priorisieren wir vorübergehend den Eingang von Waren für den täglichen Bedarf, medizinischen Verbrauchsgütern, Büchern sowie Artikel, die Sie zum Arbeiten von zu Hause benötigen könnten. Dadurch kann es für manche Artikel zu vorübergehend verlängerten Lieferzeiten kommen." [2]
Mit der bekannten logistischen Servicequalität wird es Amazon gelingen, in kurzer Zeit neue Kundengruppen zu erschließen und nach Ende der Pandemie dauerhaft zu behaupten, sofern es die etablierten Lebensmittel-Einzelhändler nicht schaffen, diese offene Flanke zeitnah zu schließen. Dies ist stark anzuzweifeln, denn im Gegensatz zu den etablierten Handelsunternehmen verfügt Amazon bereits jetzt über ein hocheffizientes Distributionssystem mit flächendeckenden unternehmenseigenen Auslieferkapazitäten, was sich bei den etablierten Lebensmittelhändlern gerade erst im Aufbau befindet.
Diese vier Gründe sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Corona andere Handelssegmente unbestritten deutlich stärker trifft. Trotzdem greift der kurzfristige Blick auf die gestiegenen Umsätze zu kurz. Der Lebensmitteleinzelhandel ist mitnichten immun gegenüber den Folgen des Virus. Von einer Rückkehr zur altbekannten Normalität ist man weit entfernt. Stattdessen scheint sich einmal mehr eine alte Kaufmannsweisheit zu bewahrheiten: Handel ist Wandel – auch oder insbesondere in Zeiten von Corona.

Quellen:

[1] https://shop.rewe.de
[2] https://www.amazon.de/b?node=21098919031&pd_rd_w=TrAcR (Stand: 26.03.2020, 12 Uhr)

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verfasst am 26.03.2020