Eine Kulturgeschichte der Popmusik

Herausgegeben von Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser (Göttingen)

Ausgangsüberlegung oder: Was ist Popmusik gewesen?

Spätestens seit dem Beginn der 2020er Jahre wird zunehmend klar: Popmusik hat sich, im wahrsten Sinne des Wortes, ‚zu Tode gesiegt‘. Einerseits hat sie sich von einer einst als anrüchig oder irgendwie subversiv geltenden Angelegenheit jugendlicher Minderheiten zu einem allgegenwärtigen, ständig verfügbaren, kulturell akzeptierten wie ökonomisch gewichtigen und in alle Gesellschaftsbereiche und -milieus vorgedrungenen Lebensbegleitmedium entwickelt. Andererseits scheint sie – nicht nur, weil die ‚Held*innen‘ der Pop I- und Pop II-Ära nach und nach den Weg alles Irdischen gehen (werden) – in Zeiten der Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche schon länger nicht mehr das Leit- und Orientierungsmedium jugendlicher Selbstverständigung zu sein. Popmusik hat gewonnen, die Musik spielt aber mittlerweile anderswo.

Gründe genug also, um innezuhalten und – die ‚Eule der Minerva‘ lässt grüßen – einen Rückblick zu wagen auf eine knapp 70-jährige Geschichte jener Popmusik, die wohl wie keine zweite Kunstform die Mentalitäten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, die aber so, wie wir sie kannten, nun vorbei zu sein scheint. Von Nostalgie frei, aber voller Staunen und Interesse folgt unser gemeinsames Projekt deshalb der Leitfrage: Was (und wie) ist eigentlich Popmusik gewesen?

Zielpublikum

Die Popgeschichte ist mittlerweile zu einem viel diskutierten Phänomenbereich in nahezu allen kulturwissenschaftlichen Fächern geworden: sowohl in den verschiedenen Literaturwissenschaften, in der Soziologie wie der Geschichts-, Medien- und Kunstwissenschaft, als auch naturgemäß in der Musikwissenschaft. Trotz (oder gerade wegen) dieses allgemeinen Interesses ist eine zusammenhängende Gesamtdarstellung der Geschichte des Gegenstands ‚Popmusik‘, die die unterschiedliche Fachperspektiven anschlussfähig bündelt, bislang ein Desiderat. Ausgehend von dieser Einsicht richtet sich die vorliegend projektierte Kulturgeschichte der Popmusik an alle sich mit Popmusik in Forschung und Lehre beschäftigenden Kolleginnen und Kollegen. Ungeachtet dieser Kernzielgruppe ist eine leserfreundliche, d.h. nicht terminologisch überfrachtete Schreibweise angestrebt, die das Buch auch für den gebildeten Laien interessant macht. Diesem Zielpublikum entsprechend also wollen wir diese Geschichte auf mittlerer Synthese-Ebene erzählen. Mittlere Synthese-Ebene, das meint ‚unterhalb‘ einer Gesamttheorie der Popmusik à la Diedrich Diederichsen, die die Kenntnisse der historischen Einzelphänomene immer schon voraussetzt, und oberhalb von fachwissenschaftlichen Detailstudien, denen der kulturgeschichtliche Gesamtzusammenhang aufgrund der je spezifischen Fachinteressen nicht in den Blick geraten kann.

Begriff, Zeitraum und Methode

Mit Diederichsen verstehen wir Popmusik als „Zusammenhang aus Bildern, Performances (meist populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpften Erzählungen.“[1] Popmusik meint daher auch, aber eben nicht nur Musik, sondern gleichermaßen die produktions- wie rezeptionsästhetische Praxis, in die sie eingebunden ist. Dieser kulturgeschichtlich in seiner Verdichtung neue, die Lebenspraxis der Produzent*innen wie Rezipient*innen prägende Zusammenhang aus musikalischen (Rock & Roll), performativen (Körperlichkeit), stilbezogenen (Mode, Haartracht etc.), akteurszentrierten (Elvis Presley, Frank Sinatra) und medienbedingten (Single, Live-Konzerte, verstärkte Instrumente, Radio und vor allem Fernsehen) Dimensionen lässt sich seit Mitte der 1950er Jahre beobachten. Er ist in seiner globalen Wahrnehmung vor allem dominant anglophon und bis heute virulent.

Aus dieser Vielschichtigkeit und -gestaltigkeit des Phänomenbereichs resultiert unsere Zugriffsweise, die sich als reflektierter Synkretismus bezeichnen lässt. Gemeint ist damit eine Betrachtungs- und Darstellungsweise, die die Zugriffs- und Beschreibungsweisen unterschiedlicher theoretischer Ansätze bzw. Disziplinen gegenstandbezogen methodisch integriert. Demzufolge avisieren wir eine Darstellung, die die dichte Beschreibung von Einzelphänomen (Song, Album, Akteure, Konzert, mediengeschichtliche Ereignisse und Umbrüche) berücksichtigt, ebenso wie jene umfassenderen sozial-, medien-, politik- und diskursgeschichtlichen Entwicklungsprozesse, die diese Einzelphänomene bedingen und ermöglichen.

 


[1] Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Köln 2014, S. XI.