Ort: Otto-Friedrich-Universität Bamberg
ICS

Agitation, Improvisation und Abgrenzung – Protestpop und Krautrock in der Sattelzeit der deutschen Popmusik

Workshop im Brechthaus Berlin

Konzeption und Organisation: Markus Joch, Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser

Die knapp eineinhalb Jahrzehnte nach 1970erscheinen im Rückblick als eine Art Sattelzeit der deutschen Popmusik: Fast alle maßgeblichen, zukunftsträchtigen Stile, Artikulations- und Inszenierungsweisen des deutschen Pop entwickeln und etablieren sich in diesem Zeitraum. Das sich in zunehmendem Maße ausdifferenzierende Spektrum reicht vom Protestpop über den sogenannten Krautrock bis hin zu einer auf Breitenwirksamkeit setzenden Rockmusik sowie den später unter dem ebenso unpräzisen wie wirkmächtigen Label „Neue Deutsche Welle“ rubrizierten Spielweisen.

Unser Workshop, der – im Sinne Diederichsens von einem weiten Begriff der Popmusik ausgehend – unter Popmusik den „Zusammenhang aus Bildern, Performances, (meist populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpften Erzählungen“ (Diederichsen 2014) versteht, zielt auf die Analyse exemplarischer Songs, Alben, Ereignisse und/oder Akteur:innen und setzt zwei thematische Schwerpunkte:

Zum einen wollen wir einen neuen Blick auf die Geschichte und die Spielarten des Protestpop werfen. Mit dem Begriff Protestpop überdachen wir Produktionen, die sich vom älteren und bedächtigeren Modell Liedermacher(in) leicht abgrenzen lassen, aber intern eine beträchtliche textuelle, habituelle und regionale Heterogenität zeigen, der gerecht zu werden das Hauptziel dieses Workshop-Teils ist. Die Bandbreite reicht, um nur wenige Beispiele zu nennen, vom Berliner Anarcho-Rock derTon Steine Scherben bis zum DKP-nahen Agitprop-Rock von Floh de Cologne; von der Post-Punk-Ästhetik der Fehlfarben bis zu BAP, den Anfang der achtziger Jahre gleich zwei Millionenseller landenden Kölschrockern, die Lindenberg in punkto Massenresonanz überholen. Bei aller Heterogenität des Protestpop zeichnen sich allerdings zwei übergreifende Tendenzen ab: An die Stelle von direkter, mitunter plakativer und/oder didaktisierender Gesinnungsmarkierung treten zunehmend Lyrics mit politischen Anspielungen, und die wachsende textuelle Subtilität geht in der Regel mit einer Verbreiterung des musikalischen Spektrums einher. Verfolgen lässt sich die teils rasante Ausbildung eines textuell wie musikalisch elaborierteren Codes etwa an der Entwicklung ein und derselben Musiker im Verlauf einer knappen Dekade (von Lokomotive Kreuzberg zu Spliff). Leitfragen in diesem Zusammenhang könnten sein: Welche kritischen deutschen Lyrics der 1970er und frühen 1980er Jahre hatten aus welchen Gründen Klassikerpotential? Was ist der spezifisch feministische Beitrag, performativ wie in ihren Texten, von Frontfrauen wie Nina Hagen und Annette Humpe? Bildet der Protestpop zwischen den ambitionierten deutschsprachigen Pop-Lyrics der 2000er Jahre (von Jochen Distelmeyer bis Ja, Panik) und den Texten heute fast vergessener Pioniere um 1930 das missing link?

Zum anderen soll es um die musikalischen, textlichen und performativen Inszenierungsstrategien des Krautrock der frühen 1970er Jahre gehen. Der vor allem von der englischsprachigen Popbeobachtung zunächst pejorativ verwendete Begriff des Krautrock ist freilich intensional diffus und extensional dispers (s. Dallach 2021). Umfasst er doch – mit der Absicht, die aus Deutschland kommende Musik der frühen 1970er Jahre unter einem Etikett zu rubrizieren – ein Spektrum ganz unterschiedlicher Stile. Dieses reicht, um hier nur einige zu nennen, von den stark rhythmusdominierten, oft noch mit traditioneller Rockinstrumentierung operierenden Improvisationen von Can, Neu! oder (bisweilen) Faust über die hippiesk-psychedelischen Soundlandschaften von Amon Düül II bis zu den elektronischen Klangexperimenten von so unterschiedlichen Bands wie Tangerine Dream, Cluster oder Kraftwerk. Einigendes Band dieser unterschiedlichen Akteure scheint jedoch – neben dem Willen, im (oft improvisatorischen) Experiment traditionelle Songformen und Popartikulationsweisen zu überwinden – vor allem die dezidierte Abgrenzung von angloamerikanischen Vorbildern zu sein. Ob und inwiefern es sich bei letzterem nicht auch um eine nachträgliche Selbststilisierung handelt, gilt es im Rahmen des Workshops zu überprüfen und zu diskutieren. In diesem Zusammenhang sollen folgende Aspekte im Mittelpunkt stehen: Welche Text-Musik-Relationen, welche performativen Konzepte, welche band- und akteursgeschichtlichen Narrative, welche regionalhistorischen Zusammenhänge lassen sich analysieren, und schließlich: Wie verhalten sich Krautrock und Protestpop zueinander, welche Überschneidungen und welche Abgrenzungen lassen sich beobachten?

Programm

14. September 2022

19.00 Uhr

Get together, Begrüßung, Eröffnung

20.00 Uhr

Eröffnungsvortrag von Diedrich Diedrichsen: Pop und Politik

15. September 2022

9.30 Uhr

Christoph Dallach: Anfangen bei Null – Als Krautrock in Deutschland die Popmusik revolutioniert wurde

10.30 Uhr

Garhard Kaiser: „You doo right“ – Can, Krautrock und der Geist von 1968

12.00 Uhr

Heinz Drügh: Kölner Szene zwischen Krautrock und Protestpop (Holger Czukay und BAP)

14.30 Uhr

Jochen Venus: Deutsche Bremsklötze. Übersetzungsprobleme der Popästhetik und ihre Produktivität

15.30 Uhr

Anna Seidel: „Musik ist eine Waffe!“ – Text und Kontext zum Ton Steine Scherben-Manifest

17.00 Uhr

Antonius Weixler: Zwei Schallplatten, Textheft, Steinschleuder. Ton Steine Scherbens Keine Macht für Niemand

18.00 Uhr

Denise Dumschat-Rehfeldt: Schon die Namen sind Frevel. Protestpop in der DDR

19.00 Uhr

Podiumsdiskussion: Kraut und Protest – Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der deutschsprachigen Popmusik der 1970er und -80er Jahre

Ulrich Gutmair und Uwe Schütte im Gespräch mit Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser

20.30 Uhr

Conference Dinner

16. September 2022

9.15 Uhr

Markus Joch: Jenseits von Bots. Unpeinlicher Protestpop um 1980

9.30  Uhr

Ole Petras: „Statement zur Lage der gantzen Musica“ – Deutscher Pop zwischen Folk und Folklore

10.30 Uhr

Kerstin Wilhelms: Komik und Protest. Deutschpunk in der Sattelzeit des deutschen Pop

12.00 Uhr

Till Huber: Politik ‚ästhetischer Turn‘ im NDW-Diskurs

13.00 Uhr

Niels Penke: Welche Monarchie in wessen Alltag? Fehlfarben und die Begründung des Post-Punk in Deutschland