Perspektivwechsel: Das Scheitern eines Verfassungsentwurfs in Chile

Im September letzten Jahres rief Chile seine Bevölkerung zu einem historischen Referendum auf: das Abstimmen über eine neue Verfassung – eine Verfassung, die wohl zu einer der progressivsten auf der Welt gehört hätte, inklusive Umweltschutz, Frauenquote und administrative Sonderrechte für indigene Gemeinden. Die Mehrheit setzte ihr Kreuzchen jedoch bei „rechazo“, also dem Ablehnen des Entwurfs. Für unsere Reihe Perspektivwechsel sprachen wir mit Dr. Katharina Scheffner (Professur für Romanische Literaturwissenschaft/Hispanistik), die zeitweise in Chile studiert und gelebt hat, um mehr über das Land, seine Politik und die Gründe für das Scheitern des Verfassungsentwurfs in Erfahrung zu bringen.


Kurze Zusammenfassung – Was ist eigentlich passiert?

Um die momentane Entwicklung in Chile einordnen zu können, müssen wir vor dem Jetzt beginnen, betont Katharina Scheffner. 1989 fanden nach 15-jähriger Diktatur das erste Mal wieder demokratische Wahlen statt, das Land verfolgte davor über Jahrzehnte hinweg einen neoliberalen Wirtschaftskurs mit einer extrem freien Marktwirtschaft. Seit Oktober 2019 kam es nun in der Hauptstadt Santiago immer wieder zu Protesten, welche sich nur durch das Versprechen einer neuen Verfassung beruhigen ließen – die bisherige stammt nämlich immer noch aus Zeiten der Diktatur von Augusto Pinochet, also aus der Zeit vor 1989.

Gewählte Volksvertreter:innen legten einen Verfassungsentwurf vor, der zunächst von Expert:innen hoch gelobt wurde. Dennoch scheiterte er in der Volksabstimmung im September letzten Jahres krachend mit einer Ablehnung von fast 62 Prozent. Die Verfassung hätte Chiles freie Marktwirtschaft stärker auf Umweltschutz ausgerichtet, ein Recht auf Bildung, Wohnraum, Gesundheit und Abtreibung sowie zahlreiche Rechte für queere Personen, Frauen und Indigene verankert. Doch woher kommt die Ablehnung dieses recht progressiven Entwurfs?

Chile – ein Land der Gegensätze

In Chile herrscht, wie in vielen Staaten, eine klassische Stadt-Land-Dichotomie mit fortschrittlichen Gemeinschaften in den größeren Städten, und eher traditionellen, konservativen Gemeinden auf dem Land. Die Personen, die auf dem Land Diskriminierung oder Exklusion z.B. aufgrund von sexueller Orientierung erfahren, wandern meist in die größeren Städte ab. Dadurch finden in der ländlichen Lebensrealität kaum queere Themen oder alternative Familienentwürfe statt. Hier verharren Frauen und Männer häufig in den klassischen Geschlechterrollen, erzählt Katharina Scheffner. Weitere Unterschiede bestehen zwischen Arm und Reich, genauso wie zwischen Weißen und indigenen Chilen:innen. Auch wenn dafür in den letzten Jahren ein Bewusstsein entstanden ist, spielt Hautfarbe immer noch eine Rolle:

„Umso dunkler die Haut, umso niedriger steht man in der sozialen Rangordnung. […] Die Ablehnung des indigenen Kulturguts ist in Chile aufgrund von Rassismus tatsächlich sehr stark.“

Und doch gar nicht so gespalten

Diese verschiedenen Pole schlagen sich auch im Wahlergebnis nieder. Und doch ist Scheffner überzeugt, dass die Bevölkerung gar nicht so gespalten ist, wie sie von sich denkt. Die politischen Ränder sind beispielsweise nicht so weit voneinander entfernt wie in Deutschland. ‚Rechts‘ hat in Chile nichts mit rechtsextrem, nicht einmal viel mit rechts-konservativ zu tun, eher mit Mitte rechts. Auch ‚die Linke‘ ist viel gemäßigter. Ausschließlich bei wirtschaftlichen Fragen verfolgt die ‚Rechte‘ tatsächlich einen stark rechts-konservativen Kurs, der die absolute Marktfreiheit in Chile bewahren will. Die strengen Einschränkungen zugunsten des Umweltschutzes, welche die Verfassung vorgesehen hatte, waren diesen politischen Kräften ein Dorn im Auge.

Unterstützung für Marginalisierte Gruppen

Ein weiterer Streitpunkt stellte der erste Teil des Entwurfs dar, der sich an die marginalisierten Gruppen richtete: u.a. Frauen, queere Personen, Menschen mit Behinderungen und Indigene wurden als solche genannt. Es waren eine gesetzliche Frauenquote und ein Recht auf Abtreibung vorgesehen. Der Staat verpflichtete sich dazu, Ungleichheiten und Benachteiligungen aktiv auszugleichen. „Bei vielen entsteht dann erstmal der Reflex: Oh, mir wird da etwas weggenommen“, so Katharina Scheffner. Chile wurde außerdem zu einem plurinationalen Staat deklariert, der den Indigenen administrative Sonderrechte in den bereits 1990ern definierten Stammesgebieten zusicherte.

Der erste Entwurf der Verfassung wurde deshalb auch von Jurist:innen aufgrund der Länge und fehlender Genauigkeit kritisiert; ein Großteil der Bevölkerung – vor allem innerhalb des Niedriglohnsektors – hatte vermutlich nicht die Kapazitäten, um sich den gesamten Entwurf durchzulesen. Erst weiter hinten in der Verfassung geht es dann nämlich um das Recht auf Bildung, auf Wohnraum und auf Gesundheit. Ein kürzerer Entwurf, der eher einen konzeptionellen Rahmen bietet, hätte wahrscheinlich mehr Chilen:innen erreicht.

Scheffner sieht, trotz der sehr traditionellen Geschlechterbilder, die auf dem Land gelebt werden, in der Ablehnung des Verfassungsentwurfes keine Fortführung von patriarchalen Strukturen. Es handle sich eher um eine generelle Angst vor dem Fremden, vor unbekannten Lebensentwürfen oder ‚neuen‘ Formen von Identität wie z.B. Non-Binarität. Gerade diese Ängste wurden aktiv von der konservativ-rechten Seite geschürt.

„Neue Verfassung ja, aber bitte nicht diese“

Der Verfassungsentwurf war circa 170 Seiten lang – zu lang für die durchschnittliche Bevölkerung, um alles genau zu lesen und Informationen, die über den Entwurf gestreut wurden, zu prüfen. Den Menschen in Chile wurde während der Diktatur nahezu ‚abtrainiert‘ Bücher zu lesen, so Scheffner, da der freie Markt Preise von Büchern extrem anhob. Daraus resultierte der Verlass auf Funk und Fernsehen und heute vor allem auf die sozialen Medien. Dies nutzten die rechten Kräfte aus, um Falschinformationen zu verbreiten und bedienten sich dem ‚Schreckensgespenst Kommunismus‘, um Ängste zu schüren. Die Etablierung eines Gesundheitssystems und einer Krankenversicherung wird dann schnell als sozialistisches Gedankengut verteufelt.

Doch nicht alle, die gegen die Verfassung stimmten, unterstützen die rechten Parteien. Einige wollten lediglich ihrem Unmut gegenüber dem Präsidenten Gabriel Boric Luft machen.

Und jetzt?

Die neue Verfassung war sehr fortschrittlich und linksliberal, die Veränderungen im Bereich der Wirtschaft wären ein großer Sprung gewesen – vielleicht zu groß. Katharina Scheffner kann viele der Kritikpunkte gut verstehen, wertet den Entwurf aber dennoch als wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Außerdem schätzt sie Chile als stabiles Land ein. Die Demonstrationen, die wir in Santiago gesehen haben, sind ihrer Erfahrung nach nichts Außergewöhnliches in der Hauptstadt.

Die Bevölkerung wünscht sich immer noch eine neue Verfassung und eine Loslösung von der Diktatur.Wichtig wäre, bei einem nächsten Versuch für eine neue Verfassung auf Verständlichkeit, Gewichtungen und Länge des Entwurfes zu achten, sodass marginalisierte Gruppen die Rechte erhalten, die ihnen zustehen, ohne, dass die Landbevölkerung sich benachteiligt fühlt. Deshalb wurde im Dezember 2022 ein neuer Versuch eingeleitet, Chile eine neue Verfassung zu geben: Ein Expertenkomitee von 24 Personen soll ab März 2023 innerhalb von drei Monaten einen neuen Entwurf vorlegen, den ein redaktionelles Gremium ab Juni überarbeiten soll und über den am 17. Dezember 2023 die Bevölkerung abstimmt. Begleitet wird der Prozess von 14 unabhängigen Jurist:innen, die darauf achten, dass die Grundsätze der bisherigen Verfassung eingehalten werden, sodass die neue Verfassung die Menschen Chiles nicht mit allzu revolutionären Ideen überrollen wird.

 

Text und Interview: Theresa Werheid.