Prolegomena zu den spätantiken Konstitutionen

Die in den Codizes Theodosianus und Justinianus gesammelten Exzerpte aus Konstitutionen sind seit Jahrhunderten ein bevorzugtes Forschungsobjekt für Juristen wie Historiker. Allerdings bleiben zahlreiche grundlegende Fragen ungeklärt, so die Kriterien der Auswahl, die Vollständigkeit des uns erhaltenen Materials und der Geltungsbereich einzelner Konstitutionen (Galten sie nur in einem Teil des Reiches? Oder gar nur im Amtsbereich des empfangenden Würdenträgers?). Die Ergebnisse der verfügbaren Arbeiten erscheinen inkonsistent, und selbst eine oberflächliche Lektüre der außerjuristischen Texte widerlegt schnell weit verbreitete Vorstellungen. Schlimmer noch, ein Großteil der Wissenschaftler, die sich mit bestimmten Themen befassen (z. B. „Familienrecht unter Konstantin“ o.ä.), versäumt es, die methodischen Annahmen offenzulegen. Dementsprechend stolpert der Leser über beiläufige Bemerkungen wie „dieses Gesetz galt nur in Afrika“ oder „zwischen diesem und jenem Jahr erfolgte keine weitere Gesetzgebung“, die freilich beide auf impliziten Annahmen beruhen (nämlich auf rezipientenabhängiger Gültigkeit bzw. auf der Vorstellung, dass die erhaltenen Exzerpte ein ziemlich vollständiges Bild der tatsächlichen Gesetzgebung liefern). In den meisten Fällen muss vermutet werden, dass solche Annahmen nicht nur unausgesprochen, sondern auch nicht durchdacht sind und eher beiläufig aus anderen Publikationen (die ihrerseits auch nicht auf einer systematischen Untersuchung der Belege beruhen) aufgegriffen wurden.

Viele der heute vorherrschenden Vorstellungen über spätantike Verfassungen lassen sich, recht bedacht, gar nicht zu einer konsistenten Theorie zusammenfügen (z.B. schließen sich empfängerabhängige und reichsteilabhängige Geltung – beides beliebte Vorstellungen in Fachkreisen – gegenseitig aus!). Dementsprechend war es mein methodisches Leitprinzip, über einen globalen Ansatz zu einem einheitlichen Modell zu gelangen. Eine weitere wichtige Beobachtung ist, dass Forscher allzu oft nur die juristischen Quellen selbst berücksichtigen. Das hat sie zu Vorstellungen geführt, die sich umgehend als unhaltbar herausstellen, wenn man sie anhand der nichtjuristischen Quellen überprüft (eine solche falsche Vorstellung ist das angebliche Publikationserfordernis, das anhand einer einzigen Libanios-Passage, die bisher übersehen wurde, ein für alle Mal widerlegt werden kann). So war es für meinen Ansatz entscheidend, beiläufige Bemerkungen spätantiker Autoren zu sammeln und soweit möglich auszuwerten.

Außerdem ist ein Modell nur dann überzeugend, wenn es sich in der Praxis bewährt; und „Praxis“ bedeutet im Falle spätantiker Konstitutionen die Arbeit an diesen Texten mit einem bestimmten Interpretationsziel. Deshalb hatte mein Buch einen Doppelcharakter: Nach der umfangreichen Erörterung der grundsätzlichen Fragen zu den Konstitutionen folgt eine umfassende Analyse eines spezifischen Rechtsgebiets, nämlich der testamentarischen und der damit verbundenen Sanktionen gegen verschiedene heterodoxe Gruppen. Auf diese Stichprobe von etwa 20 Konstitutionen wurde das im ersten Teil beschriebene Modell angewandt. Es konnte gezeigt werden, dass meine Sicht der Konstitutionen nicht nur in sich konsistent ist, sondern auch funktioniert, wenn sie auf die Diskussion spezifischer Gesetze angewendet wird.

Was die Ergebnisse betrifft, so ist es keine leichte Aufgabe, die Ergebnisse eines 900 Seiten starken Buches in wenigen Zeilen zusammenzufassen. Kurz gefasst, ist mein Leitgedanke das juristische Durcheinander der Spätantike: Niemand – weder Untertan noch Jurist noch Richter noch Kaiser – hatte einen Überblick über die Gesamtheit der Verfassungen. Das erklärt die zahlreichen Wiederholungen (denn ein skeptischer Richter zog es vor, sich beim Kaiser zu vergewissern, ob es überhaupt eine Konstitution gab oder, genauer gesagt, ob dem Kaiser ein solches Gesetz bekannt war), die Sorge vor Fälschungen, die Widersprüche (im Gegensatz zu uns hatten die damaligen Kaiser kein Gesetzbuch zur Hand!) und viele weitere der Phänomene, die jedem modernen Beobachter so unerklärlich erscheinen. Was die testamentarischen Einschränkungen betrifft, so lässt sich zeigen, dass alle bisher vorgetragenen Erklärungen fehlerhaft sind. Bei einer sanktionierten Gruppe (den Donatisten) ist der reale Hintergrund dank bemerkenswerten nichtjuristischen Quellen zweifelsfrei feststellbar, bei den anderen Gruppen lässt sich die Geschichte recht plausibel rekonstruieren.

 

Publikationen

Prolegomena zu den spätantiken Konstitutionen. Nebst einer Analyse der erbrechtlichen und verwandten Sanktionen gegen Heterodoxe. – Stuttgart-Bad Cannstatt 2020, S. 898.

Paul Krüger, Theodor Mommsen, and the Theodosian Code. - In: Roman Legal Tradition 17 (2021) 1–112.