15 Studierende der Geographie beim Abschluss der Großen Exkursion zur Historischen Geographie Venedigs und seiner Umgebung am Strand von Sant'Erasmo
Blick von der Festung Peschiera del Garda auf einen Teil der Festungsmauer und den Gardasee
Zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust im Stadtteil Veronetta in Verona
Krieg und Frieden in Vergangenheit und Gegenwart: Die Verbindung von Antimilitarismus und die Mahnung vor dem ökologischen Kollaps der Erde in der Festungsanlage von Marghera
Der Campo del Ghetto di Venezia im Stadtteil Canarregio
Der private Strand vor dem "Grand Hotel Excelsior" auf dem Lido di Venezia
Der Garten vor dem "Experientia": Bewahrung des historischen Erbes der Insel und Weiterentwicklung der ökologischen Landwirtschaft unter dem Motto des "Slow Tourism" auf der Insel Sant'Erasmo
Auch Denkmäler haben eine Geschichte: "Zum Gedenken an die Befreiung Italiens von den Nationalsozialisten" aus dem Jahr 1985 in Mestre
Historische Geographie Venedigs und seiner Umgebung
Vom 1. bis 8. September 2025 nahmen 15 Studierende unter der Leitung von Dr. Patrick Reitinger an einer Großen Exkursion nach Venetien teil. Besucht wurden die Orte Verona, Peschiera del Garda, Vicenza und Venedig. Die Studierenden sollten sich dabei nicht nur mit Regionalisierungsprozessen im diachronen Verlauf und den wichtigsten historisch-geographisch zu erklärenden Raumstrukturen in Venetien beschäftigen, sondern zugleich spezifische Methoden der Regionalgeographie erlernen und praktisch anwenden. Grundlage dafür waren die Raumkonzepte, die von Ute Wardenga jüngst aus einer geographiegeschichtlichen Perspektive weiterentwickelt wurden und die durch ihre geographiedidaktische Einbettung insbesondere für die teilnehmenden Lehramtsstudierenden eine kritische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen regionalgeographischer Methoden und Praktiken bot.
Eingeübt wurden während der Exkursion drei grundlegende Strukturelemente der Geographie: Visualisierungen, Mensch-Umwelt-Beziehungen und Zeitlichkeit. Diskutiert wurden auf dieser Grundlage verschiedene Entwicklungen der Geographiegeschichte von der Länderkunde über die Landschaftsgeographie, die funktionalistische Geographie bis hin zu den Geographies of Places, die gegenwärtig vor allem in der Humangeographie die Debatten prägen.
Dabei entwickelten die Studierenden, zum Teil in Kleingruppen, zum Teil unter Anleitung der Exkursionsleitung, unterschiedliche empirische Zugänge. In Verona stand das Erkennen verschiedener Zeitschichten im Raum im Mittelpunkt. Eingebettet von Referaten zur antiken Stadtentwicklung, zur Entwicklung der oberitalienischen Städte im Mittelalter und der frühen Neuzeit oder zur Familie der Scaliger und deren stadtgeographisches Wirken in Verona kartierten die Studierenden materielle Überlieferungen in der Stadt und ordneten die identifizierten Sachquellen verschiedenen historischen Phase zu. Der Fokus lag dabei auf den römischen Strukturen der Stadt, die es zu erkennen galt, um die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Weiterentwicklungen auf dieser Grundlage besser interpretieren zu können. Schließlich wendeten die Studierenden die erlernten Kompetenzen und Perspektiven in Peschiera del Garda an, wo in einer im 15. und 16. Jahrhundert durch Venedig ausgebauten Festung unmittelbar am Gardasee die übergreifenden historisch-geographischen Dimensionen der venezianischen Regionalisierungsprozesse rekonstruiert werden konnten.
Nach zweieinhalb Tagen in Verona und Peschiera del Garda setzte die Gruppe die Exkursion in Vicenza fort. Hier konnte nun auf die erarbeiteten Grundlagen aufgebaut werden, handelt es sich doch bei Vicenza heute im historischen Stadtkern im Wesentlichen um die Überlieferung aus der Schaffensphase von Andrea Palladio, der durch seine architektonischen und stadtplanerischen Ansätze im 16. Jahrhundert die Basis für einen spezifischen Landschaftstypus entwickelte, der auf einem klassisch-römischen Ideal die historischen Strukturen Vicenzas und seiner Umgebung bis heute prägt. Die Studierenden beschäftigten sich mit den von Palladio geplanten, umgesetzten und inspirierten Bauten in Vicenza und schlugen dabei den Bogen zu aktuellen Fragestellungen der Geographie. Sie diskutierten in Kleingruppen, in welchem Spannungsverhältnis die Bewahrung und Weiterentwicklung der historischen Strukturen zu sozialgeographischen Problemfeldern des Wohnens, Lebens und Arbeitens stehen, welche Möglichkeiten und Risiken sich für Vicenza und seine Bevölkerung aus tourismusgeographischer Perspektive ergeben, wie eine nachhaltige Stadtentwicklung aussehen könnte, die das historische Gewordensein der Stadt in den Blick nimmt, und welche positiven und negativen Auswirkungen sich aus der Tatsache ergeben, dass das palladianische Vicenza heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist.
Bei all den Stationen und Themen war immer präsent, dass sich die Gruppe in einer Region befand, die seit dem Mittelalter wesentlich unter dem Einfluss der Republik Venedig stand. Diese Fäden wurden im letzten Teil der Exkursion zusammengeführt. Von Mestre aus entdeckten die Studierenden auf einer ausgedehnten Stadtexkursion historisch-geographische Strukturen, die weit abseits der heutigen Tourismusströme einen guten Einblick in das raumpolitische Agieren der Republik Venedig gaben. Die Studierenden besuchten den historischen Kern von Mestre und erschlossen sich von dort aus die verschiedenen Phasen der Eingliederung des Umlandes von Venedig in den Einflussbereich der mittelalterlichen See- und Wirtschaftsmacht. Dabei spielten wirtschafts- und verkehrsgeographische Aspekte durch die Einbindung Mestres in den venezianischen Handel oder die Angliederung an das Kanalsystem ebenso eine Rolle wie die in der Stadtlandschaft immer wieder sichtbar gewordenen Aspekte der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In der Festung Marghera bekam die Gruppe einen Einblick in die Auswirkungen des Zusammenbruchs der Republik Venedig im Kontext der napoleonischen Kriege sowie der österreichischen Herrschaftsphase nach dem Wiener Kongress oder auch der italienischen Einigungskriege. Dabei konnten die Studierenden in der Zwischenzeit Querverbindungen zu den in Verona, Peschiera del Garda und Vicenza erarbeiteten Themen herstellen und dadurch ein immer besseres Gefühl für die historisch-geographischen Dimensionen von Regionalisierungsprozessen gewinnen. In Venedig selbst näherte sich die Gruppe thematisch zunehmend der Gegenwart. Dabei diskutierten die Studierenden im Ghetto di Venezia Aspekte der lokalen und regionalen jüdischen Geschichte und im Arsenale Aspekte der Wirtschaftsgeographie ebenso wie Fragen von Krieg und Frieden oder auch den historischen und aktuellen Umgang mit Kolonien. Auf dem Lido di Venezia, vor dem imposanten Gebäude des “Grand Hotel Excelsior”, bekamen die Teilnehmenden inmitten der gerade stattfindenden Biennale einen Eindruck von den historischen Grundlagen des modernen Massentourismus, der sich seit dem 19. Jahrhundert in Venedig entwickelte.
Am letzten Tag fuhr die Exkursionsgruppe hinaus in die Lagune. Auf der Insel Murano diskutierten die Studierenden zunächst die historischen Grundlagen der venezianischen Glasindustrie sowie die Auswirkungen der Globalisierung auf die heutigen Wohn- und Arbeitsmarktstrukturen, wobei in den Referaten insbesondere die Perspektiven der Bewohnerinnen und Bewohner Muranos reflektiert wurden. Den Abschluss fand die Gruppe auf Sant'Erasmo, wo die Studierenden erleben konnten, wie einheimische Landwirte über das Konzept des Agriturismo versuchten, die eigenen landwirtschaftlichen Betriebe in Verbindung mit einem Sanften Tourismus in die Zukunft zu führen. Besprochen wurden die Zusammenhänge zwischen dem Ökosystem der venezianischen Lagune und den Möglichkeiten und Grenzen der ökologischen Landwirtschaft auf der Insel sowie die Vermarktung der biologisch angebauten Produkte in Venedig. Wir erhielten Einblick in einen landwirtschaftlichen Betrieb und durften erleben, wie aktuell historische Strukturen des 19. Jahrhunderts mit modernen Ansätzen der Street-Food-Bewegung verbunden werden, um abseits des Massentourismus den Menschen auf Sant'Erasmo eine gute Zukunft zu geben.
Von Mestre aus trat die Gruppe – wie schon auf der Hinreise und trotz Streik bei Trenitalia – wieder mit dem Zug die Rückreise an. Dabei hatten alle Teilnehmenden die Gelegenheit, bei einem Blick aus dem Fenster die Stationen Vicenza und Verona noch einmal Revue passieren zu lassen, bevor es über Südtirol, den Brenner, Innsbruck und München zurück nach Franken ging. Die Studierenden konnten sich während der achttägigen Exkursion intensiv mit der Historischen Geographie Venedigs und seiner Umgebung auseinanderzusetzen und dabei eine Vielzahl der im Studium erlernten humangeographischen und physisch-geographsichen Themen mit spezifischen regionalgeographischen Methoden und Konzepten verbinden. Durch die permanente Diskussion der Wardenga'schen Raumkonzepte erhielt die Gruppe schließlich auch noch Einblicke in die Fachgeschichte der Geographie, was ihnen dabei half, ihr eignes Agieren als Geographinnen und Geographen in den historischen Gesamtzusammenhang der eigenen Disziplin einzuordnen.