Bei der Europawahl 2014 in Griechenland profitierte die rechtsextreme Partei "Goldene Morgenröte" vom Ärger der Griechen über Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption im Land sowie über die strengen Sparauflagen im Zuge der Euro-Krise. (Foto: Steve Jurvetson/Wikimedia/CC-BY-2.0)

Oliver Lauenstein (Foto: Freyja Ebner)

Gerhard Reese (Foto: privat)

Das Klischee von den deutschen Sparnazis

Bamberger Sozialpsychologe forscht zur Re-Nationalisierung der europäischen Mitgliedsstaaten

Bei den Europawahlen 2014 triumphierten vielerorts nationalistische und Anti-EU-Parteien. Welche psychologischen Mechanismen hinter dem neuen Nationaldenken stecken, untersucht der Bamberger Sozialpsychologe Oliver Lauenstein gemeinsam mit seinem Kollegen Gerhard Reese von der Universität Leipzig. Die Forscher machen deutlich: Der neue Nationalismus-Trend ist mehr als ein Krisenphänomen. Und mit einer ausgestandenen Krise wäre das Problem längst nicht vom Tisch.

Die Europawahlen 2014 liegen hinter uns. Von einem politischen Erdrutsch war in den vergangenen Wochen in den Medien vielfach die Rede. Damit gemeint: Das Erstarken nationalistischer und Anti-EU-Parteien. Nach derzeitigem Stand werden sie rund 140 der 751 Sitze einnehmen. Insbesondere die Wahlergebnisse in Frankreich sorgten vielfach für Aufsehen: Dort erreichte der rechtsextreme Front National 26 Prozent der Stimmen – und damit fast doppelt so viele Prozentpunkte wie die regierenden Sozialisten.

Einen ähnlichen Wahlerfolg konnte der britische Rechtspopulist Nigel Farage verbuchen – rund 28 der Stimmen heimste seine europafeindliche Partei Ukip ein. In zahlreichen weiteren EU-Staaten sah die Lage ganz ähnlich aus: Extreme europaskeptische bis europafeindliche Parteien triumphierten in Dänemark, Österreich, Polen, Ungarn, Finnland und Griechenland. In Deutschland gelang der europakritischen Alternative für Deutschland aus dem Stand mit 7 Prozent der Einzug ins Europaparlament.

Dem Re-Nationalisierungs-Phänomen auf der Spur

Wie lässt sich diese Re-Nationalisierung erklären? Seit rund einem Jahr untersucht der Bamberger Wissenschaftler Dr. Oliver Lauenstein gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Gerhard Reese, Post-Doc und Wissenschaftler an der Universität Leipzig, die psychologischen Mechanismen, die dem aktuellen Trend zur Re-Nationalisierung in den europäischen Mitgliedsstaaten zugrunde liegen. Unter Bezugnahme auf eine Bandbreite sozialwissenschaftlicher Studien wiesen Lauenstein und Reese nach, dass Euroskeptizismus und Nationalismus nur zum Teil Ausgeburten der Eurokrise darstellen.

Der Euroskeptizismus als Krisenphänomen?

Gemeinsam mit Reese wertete Lauenstein Studien aus der Zeit vor der Eurokrise aus: „Diese weisen ein überwiegend positives Europabild nach.“ Jüngere sozialwissenschaftliche Studien namhafter Meinungsforschungsinstitute hingegen belegen einen Rückgang des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der Europäischen Union – insbesondere in den am härtesten von der Wirtschaftskrise getroffenen Ländern. „In Krisenzeiten orientieren sich Menschen verstärkt an der näheren sozialen Umgebung“, erklärt Reese einen basalen sozialpsychologischen Prozess. Da liege eine wachsende Identifikation mit der eigenen Nation nur nahe.

Gruppenmitgliedschaft ist wichtig für unsere Identität

Doch unabhängig von Krisengefährdungen streben Menschen nach Gruppenzugehörigkeit. „Dies hat evolutionär gute Gründe“, erläutert Reese: „In einer Gruppe waren die Überlebenschancen stets größer.“ Und auch heute noch haben solche Grundsätze Gültigkeit: „Gruppen helfen uns, uns in unserer sozialen Umwelt zurechtzufinden“, fasst Lauenstein zusammen. Bereits in simplen Alltagssituation greifen solche Mechanismen: Etwa, wenn ein Festivalgänger auf dem Weg zum Konzertgelände Gleichgesinnte an Band-Shirts erkennt.

Nationalgesinnung statt EU-Denken

Doch warum fühlt sich der Deutsche lieber deutsch als europäisch? Schließlich ist auch im Hinblick auf die aktuelle Krise die wirtschaftliche und soziale Situation in Europa ungleich besser als in weiten Teilen der Welt, wie die Zahlen des Human Development Index belegen. Jedoch: „Damit Menschen eine soziale Identität akzeptieren, müssen sie wissen, was die Gruppe ausmacht“, betont Reese. Da sei es einfacher sich auf ur-deutsche und greifbare Tugenden wie Fleiß und Disziplin zu berufen, als die eher abstrakten europäischen Werte Solidarität, Freiheit und Kooperation zu leben: „Je mehr und abstrakter die Gruppe wird, desto schwieriger ist es, einen gemeinsamen Nenner zu finden.“

Wünschenswert: EU-Bürger trotz Nationalbewusstsein

Doch Lauenstein und Reese sind überzeugt: Eine gleichermaßen nationale wie europäische Identität ist nicht nur wünschenswert - sondern aus sozialpsychologischer Sicht auch möglich. „Vor allem, wenn die Werte auf nationaler und europäischer Ebene auch zusammenpassen und sich gegenseitig ergänzen“, betont Lauenstein und verweist exemplarisch auf Italien. Dort wurden in den Jahren vor der Krise die italienische und europäische Identität als sich gegenseitig ergänzend wahrgenommen.

Europäische Identität entsteht nicht von selbst

Auf dem Weg hin zu einer gleichermaßen positiv korrelierten nationalen wie europäischen Identität herrscht Handlungsbedarf. Denn fest steht, so Reese: „Mit einer ausgestandenen Krise wäre das Problem längst noch nicht vollständig vom Tisch.“ Zum einen bedeuten Monate oder gar Jahre der Krise: Die Bevölkerung der jeweiligen EU-Staaten hat Zeit, sich an nationalistisches Denken zu gewöhnen oder in dieses gar hineinzusteigern. „Zudem können Verletzungen zwischen Gruppen sehr lange weiter tragen“, betont Lauenstein. Die griechische Bevölkerung etwa empfinde die ihr abverlangten Sparmaßnahmen als Schuld der Deutschen. „Diese Animositäten werden auch unter verbesserten wirtschaftlichen Bedingungen nicht vergessen sein.“

Wir-Gefühl stärken

Was könnte die europäischen Nationen vor diesem Hintergrund stärker vereinen? Diverse psychologische Studien raten zur Reduktion von Vorurteilen und Animositäten: Die beteiligten Gruppen sollen durch gemeinsame Anstrengung ein Problem lösen. Auf die Europäische Union übertragen hieße dies, ein länderübergreifendes Problem wie die Umweltkrise durch ein gemeinsames Projekt ‚umweltfreundliches Europa‘ angehen und so zur Entstehung eines ‚wir Europäer haben es geschafft‘-Gefühls beitragen.

In der Psychologie etabliert ist zudem die Kontakthypothese. Der zufolge führt der direkte, institutionell geleitete Kontakt zu einem besseren, gegenseitigen Verständnis von Gruppen. Jüngere Studien hingegen weisen nach, dass Teilnehmer des Studierendenaustauschprogramms Erasmus oftmals weniger mit europäischem Denken, als vielmehr mit einer stärkeren Nationalidentität in ihre Heimatländer zurückkehren. Lauenstein und Reese forschen auch weiterhin zum Thema Nationalismus und europäische Identität. Reese arbeitet derzeit zum Gerechtigkeits- und Legitimitätsempfinden innerhalb der Europäischen Union. Lauenstein befasst sich im Rahmen eines Seminars mit Studierenden mit Fragen der Diversität und Inklusion - auch in Europa. Denn, so Reese: „Auf den zweiten Blick ist alles nicht so einfach wie es scheint.“

Kontakt für Rückfragen

Oliver Lauenstein
Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Tel.: (0951) 863-1867
Tel.: (0951) 863-1871 (Sekretariat)
E-Mail: oliver.lauenstein@uni-bamberg.de

Weitere Informationen:
www.mdpi.com/2076-0760/3/1/160
de.in-mind.org/article/besuchen-sie-europa-solange-es-noch-steht-zur-frage-europaeischer-identitaet-in-zeiten-der

Hinweis

Diesen Text verfasste Andrea Lösel für die Pressestelle der Universität Bamberg. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.

Bei Fragen oder Bilderwünschen kontaktieren Sie die Pressestelle bitte unter der Mailadresse medien@uni-bamberg.de oder Tel: 0951-863 1023.