Erstmalig EKD-Denkschrift zu Armut in Deutschland

Dokumentation

epd vom 11. Juli

Berlin (epd). Zu wirksamer Armutsbekämpfung reichen aus Sicht der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) materielle Unterstützung und ein staatlich gestützter Arbeitsmarkt nicht aus. Entscheidend sei daneben, dass über aktivierende Hilfen und wirksame Bildungsreformen eine breite Teilhabe ärmerer Menschen an der Gesellschaft erreicht wird, empfiehlt die EKD in ihrer am Dienstag in Berlin vorgelegten Denkschrift zu Armut in Deutschland. Nachstehend dokumentiert epd Auszüge aus dem Dokument:

"Die Herausforderung, Armut entschlossen zu bekämpfen, stellt sich heute in Deutschland in anderer Weise als früher. Zwar muss auch heute dafür gesorgt werden, dass Menschen in materieller Hinsicht so gestellt werden, dass ihnen ein Leben in Würde möglich ist. Die Höhe der entsprechenden materiellen Transferleistungen muss immer wieder geprüft und den allgemeinen Entwicklungen angepasst werden. Der Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit bleibt daher von großer Bedeutung, denn wenn Menschen in die Situation geraten, kein eigenes Einkommen erzielen zu können, ist der Anspruch auf materielle Basissicherung die Voraussetzung dafür, weiter gehende, nichtmaterielle Unterstützung überhaupt nutzen zu können. Aber solidarisch gewährte materielle Unterstützung und ein staatlicher gestützter Arbeitsmarkt reichen nicht aus, um nachhaltig vor Armut bewahrt zu bleiben. Entscheidend ist mehr denn je, dass auch von staatlicher Seite aktivierende und unterstützende Hilfen und insbesondere wirksa  me Bildungsmöglichkeiten bereitgehalten werden, um eine breite Teilhabe der betreffenden Menschen an der Gesellschaft zu sichern bzw. wiederherzustellen. Nur durch die Verbesserung der Teilhabegerechtigkeit ist eine dauerhafte Sicherung vor Armut im Sinne von Ausgrenzung möglich.

In der hoch entwickelten und reichen Gesellschaft Deutschlands ist es auch aus ethischer Sicht notwendig, nicht nur extreme Armut - also materielle Armut unterhalb des sozio-kulturellen Existenzminimums -, sondern auch Armut im Sinne unzureichender Teilhabe entschlossen und wirkungsvoll zu bekämpfen. Weit mehr als in ärmeren Gesellschaften kann es keine Entschuldigung geben für politische Zögerlichkeit oder eine mangelnde Bereitstellung von Ressourcen und Bildung zur Vermeidung von Armut und zur Stärkung von Solidarität. Es entspricht dem christlichen Verständnis und liegt im Interesse aller, dass dies wirksamer als bisher gelingt. Diese Aufgabe kommt dabei besonders den in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verantwortung Stehenden zu. Wohlstand und gesellschaftliche Stabilität lassen sich dauerhaft nur für alle gemeinsam sichern. Wenn sich aber ein großer Teil der Bevölkerung als ausgeschlossen erlebt und die Differenzen zwischen Reichen und Armen immer weiter wachse  n, kann es keine allseits als gerecht erlebte gesellschaftliche Entwicklung geben. (...)

Eine gerechte Gesellschaft muss so gestaltet sein, dass möglichst viele Menschen tatsächlich in der Lage sind, ihre jeweiligen Begabungen sowohl zu erkennen, als auch sie auszubilden und schließlich produktiv für sich selbst und andere einsetzen zu können. Eine solche Gesellschaft investiert folglich, wo immer es geht, in die Entwicklung der Fähigkeiten der Menschen zur Gestaltung ihres eigenen Lebens sowie der gesamten Gesellschaft in ihren sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen. Eine solche Gesellschaft ist so verfasst, dass sich diese aus den individuellen Begabungen erwachsenen Gaben und Fähigkeiten, biblisch "Charismen" genannt, zur möglichst eigenverantwortlichen Sicherung des Lebensunterhalts und im Interesse aller solidarisch einsetzen lassen. Das heißt mit Blick auf das gegenwärtige Wirtschaftssystem, dass ein größtmöglicher Teil der Bevölkerung über bezahlte Arbeit verfügen soll, so weit er dies anstrebt, und dass gleichzeitig die wichtige, vielfältig geleistete  familiale, soziale und gesellschaftliche Arbeit in angemessener Weise anerkannt und integriert wird. Der Begriff der "gerechten Teilhabe" meint genau dies: umfassende Beteiligung aller an Bildung und Ausbildung sowie an den wirtschaftlichen, sozialen und solidarischen Prozessen der Gesellschaft. (...)

Im Mittelpunkt aktivierender und unterstützender Hilfen steht die auf allen Ebenen, insbesondere aber durch das Bildungssystem zu leistende Vermittlung von Kompetenzen. Diese Kompetenzen zielen vor allem auf die Entwicklung von Eigenverantwortung und Solidarität. Hier liegt der Schlüssel für eine wirksame Armutsbekämpfung - und hier gibt es in Deutschland einen hohen Nachholbedarf. Das deutsche System der Elementar- und Schulbildung schützt im Ergebnis nicht nur zu wenig vor Armut, sondern weist erhebliche selektive Strukturen auf, die materielle, kulturelle und soziale Trennungen reproduzieren. Es trägt so dazu bei, dass der Schulerfolg eines Kindes vergleichsweise zu sehr von seiner sozialen Herkunft und zu wenig von seinen Begabungen bestimmt wird. Notwendig ist Entschlossenheit auf allen Ebenen, endlich Chancengerechtigkeit praktisch zu realisieren und die vorhandenen Fähigkeiten zur Entwicklung von Eigenverantwortung und Solidarität in Erziehung, Bildung und Ausbildung z  u fördern. Ein neuer Geist der Wertschätzung und der Beteiligung muss die in der Bildung vorhandenen Tendenzen zur Ausgrenzung und Entsolidarisierung überwinden. Dabei wird davon auszugehen sein, dass es immer Menschen geben wird, denen es nicht gelingt, das Bildungssystem erfolgreich zu durchlaufen. Gerade diesen Menschen muss in einem funktionierenden Sozialstaat mit gesetzlich geregelten Leistungen gezielt und nachhaltig geholfen werden. (...)

Allerdings ist es illusorisch anzunehmen, dass allein durch gesteigerte Qualifizierung Arbeitslosigkeit auf absehbare Zeit gänzlich beseitigt werden könnte. Es wird eine nennenswerte Gruppe von weniger Qualifizierten bleiben, die nur in einem Niedriglohnbereich eine Chance auf Arbeit haben werden. Insofern gibt es im Interesse der Teilhabe aller an und durch bezahlte Arbeit keine Alternative zur Beschäftigungsförderung von geringer bezahlten Arbeitsplätzen. (...)

Ein Niedriglohnsektor darf kein Bereich werden, in dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch eine sich stets nach unten bewegende Lohnspirale ausgebeutet werden. In einem reichen Land wie Deutschland sollte es Ziel sein, den Niedriglohnsektor so klein wie möglich zu halten. Insofern er notwendig ist, ist es entscheidend, dass es in diesem Bereich überhaupt genügend Nachfrage nach Arbeitskräften gibt. Wo dies am regulären Arbeitsmarkt nicht der Fall ist, muss schon um der Menschen willen auf öffentlich geförderte und wo nötig auch auf direkt öffentlich bereitgestellte Arbeitsplätze zurückgegriffen werden. Staatlich geschaffene Tätigkeiten mögen ökonomisch ineffizient sein, aber die heutige Situation ist nicht nur menschlich, sondern auch ökonomisch unbefriedigend. Einen zusätzlichen kleinen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt wird es darüber hinaus auch auf Dauer für nicht ausreichend Bildungsfähige und Menschen mit Behinderungen geben müssen. (...)

Christinnen und Christen sowie Kirche und Diakonie als Institutionen stehen bei der Armutsbekämpfung in besonderer Weise in der Pflicht. Die Hinnahme von unfreiwilliger Armut in der Gesellschaft stellt ein gesellschaftliches wie individuelles Versagen vor Gottes Anspruch und seinen Geboten dar. Unsere Gesellschaft verfügt über ein in der Geschichte der Menschheit noch nie da gewesenes Ausmaß an Ressourcen: deswegen gibt es keine Entschuldigung, unzureichende Teilhabe und Armut nicht entschieden überwinden zu wollen. Eine Kirche, die auf das Einfordern von Gerechtigkeit verzichtet, deren Mitglieder keine Barmherzigkeit üben und die sich nicht mehr den Armen öffnet oder ihnen gar Teilhabemöglichkeiten verwehrt, ist - bei allem möglichen äußeren Erfolg und der Anerkennung in der Gesellschaft - nicht die Kirche Jesu Christi." (...) (08171/11.7.2006)