Forschungsprojekt des Quartals
Inhalt und Ziele
Der Projektverbund RUECA (Research Unit of the Emergence of Collective Agency) untersucht das Entstehen kollektiver Akteursfähigkeit von institutionalisierten Gruppenakteuren, die nicht-hierarchisch organisiert sind. Im Unterschied zu Verwaltungen, Behörden und Ministerien, die im Kern hierarchisch organisiert sind, stehen die Mitglieder von Parlamenten und ihren Ausschüssen, Verbänden, Gerichtskammern oder internationalen Institutionen weitgehend auf gleicher Ebene. In der Alltagssprache wird solchen Gruppen dennoch vielfach Akteurseigenschaft zugeschrieben. Es heißt etwa: ‚das Gericht verurteilt‘ oder ‚der Weltsicherheitsrat beschließt‘. Werden diese Organe ‚wirklich‘ zu Akteuren oder handelt es sich nur um Metaphern?
Die Betrachtung horizontal organisierter Gruppen als kollektive Akteure ist in den Sozialwissenschaften umstritten. RUECA befasst sich deshalb mit der Frage, wie aus dem Zusammenwirken der Mitglieder einer solchen Gruppe kollektive Akteursfähigkeit entstehen kann. Aus der Perspektive des methodologischen Individualismus ist es nämlich höchst erklärungsbedürftig, wie die Interaktion zwischen Gruppenmitgliedern kollektives Handeln als eigenständiges Phänomen hervorbringen kann, das nicht auf die Summe der Präferenzen der einzelnen Akteure – z. B. Mitglieder des Bundestages oder des Weltsicherheitsrats – reduziert werden kann. Wie können unter den Prämissen dieser sehr etablierten individualistischen Forschungstradition in den Sozialwissenschaften Phänomene wie die Entstehung eines „esprit de corps“ überhaupt erklärt werden? Im Kern der Projekte steht also die Frage, wie und unter welchen Umständen solche Gruppen individueller Akteure Eigenschaften eines kollektiven Akteurs erwerben können.
Methode
RUECA untersucht das Phänomen von organisierten Gruppen als kollektive Akteure in den folgenden sechs Projekten:
- Kollektive Akteursqualität horizontaler Organisationen in der globalen Umwelt- und Finanzmarktpolitik; Prof Dr. Thomas Gehring (Universität Bamberg) und Prof. Dr. Thomas Rixen (FU Berlin)
- Abgeordnete zwischen demokratischer Verantwortlichkeit und Teilhabe an der Autonomie eines horizontalen kollektiven Akteurs; Prof. Dr. Thomas Saalfeld (Universität Bamberg)
- Koordinationsausschüsse als parlamentarische Agendasetzer; Prof. Dr. Ulrich Sieberer (Universität Bamberg)
- Die Menschenrechtsausschüsse der Vereinten Nationen und Gruppenhandeln; Prof. Dr. Monika Heupel (Universität Bamberg)
- Nicht-hierarchische Gruppen mit Akteursqualität: Eine spieltheoretische und computergestützte Analyse; Prof. Dr. Johannes Marx (Universität Bamberg) und Prof. Dr. Olivier Roy (Universität Bayreuth)
- Kollektive Handlungsprobleme und Einfluss lokaler intergouvernementaler Vereinigungen, Prof. Dr. Nathalie Behnke (TU Darmstadt).
RUECA soll dazu beitragen, eine theoretisch und empirisch tragfähige Konzeption kollektiver Akteure zu entwickeln. Theoretisch wird diese Perspektive durch Modelle aus der Politikwissenschaft sowie durch Konzepte aus Nachbardisziplinen, insbesondere der Philosophie, Soziologie und Psychologie, sowie durch Simulationen und spieltheoretische Modellierungen zu Gruppenbildungsprozessen gestützt. Empirisch stützen sich die Projekte auf die vergleichende Untersuchung der Handlungsfähigkeit einer Vielzahl unterschiedlicher horizontaler kollektiver Akteure , darunter internationale Institutionen, Expertenausschüsse, Parlamente und parlamentarische Ausschüsse sowie zwischenstaatliche Vereinigungen. Dabei kommt ein breites Spektrum an Methoden zur Anwendung, das von qualitativen Fallstudien bis zu quantitativen Analysen reicht.
(Erste) Ergebnisse oder Zentrale Ergebnisse
Erste Ergebnisse zeigen, dass nicht-hierarchische institutionalisierte Gruppen zu eigenständigen Akteuren werden, wenn sie selbst Handlungsfähigkeit und Autonomie gewinnen.
- Sie gewinnen eigenständige Handlungsfähigkeit in dem Ausmaß, in dem ihnen die Kompetenz zur Entscheidung über nach außen wirksame Maßnahmen übertragen wird. Eine Gerichtskammer handelt dann etwa durch die Entscheidung über ein Urteil oder ein Parlament durch die Verabschiedung eines Gesetzes.
- Sie gewinnen Autonomie in dem Ausmaß, in dem ihre Entscheidungen durch Organisationseinflüsse bzw. Gruppeneffekte bestimmt werden und nicht direkt aus den Zielvorstellungen, Überzeugungen und Präferenzen ihrer Mitglieder abgeleitet werden können. Autonomie entsteht einerseits durch die schrittweise Herausbildung gemeinsamer Vorstellungen und die Sozialisierung der Mitglieder, andererseits durch institutionelle Strukturen, z.B. Regeln, Verfahren und Präzedenzfälle.
Gesellschaftliche Relevanz und Nutzungsmöglichkeiten der Ergebnisse
Das Thema wirft wichtige empirische und normative Fragen auf. Erstens werden viele politisch und gesellschaftlich wichtige Entscheidungen in modernen Gesellschaften von horizontal organisierten Gruppenakteuren, etwa Parlamenten, Ausschüssen oder Versammlungen, ausgearbeitet und beschlossen. Zweitens sind die Entscheidungen solcher Gruppenakteure häufig nicht vollständig durch die aggregierten individuellen Präferenzen ihrer Mitglieder bestimmt. Damit stellt sich die empirische Frage, nach welchen Gesichtspunkten Gruppenakteure ihre Handlungsentscheidungen treffen und die normative Frage, wer für das Handeln solcher Akteure verantwortlich ist.
Aktuelle Publikationen
- Thomas Dörfler, Thomas Gehring 2021: Analogy-based Collective Decision-making and Incremental Change. In: European Journal of International Relations, 27(3), 753–778.
- Soroush Rafiee Rad, Olivier Roy 2021: Deliberation, Single-Peakedness, and Coherent Aggregation; in: American Political Science Review 115(2), 629-648.
- Sieberer, Ulrich/Dutkowski, Julia F./Meißner, Peter/Müller, Wolfgang C., 2020, ’Going Institutional’ to Overcome Obstruction: Explaining the Suppression of Minority Rights in Western European Parliaments, 1945-2010, European Journal of Political Research, 59 (4), 886-909
- Dominik Klein, Johannes Marx 2021: Die epistemische Qualität demokratischer Entscheidungsverfahren. Interaktionseffekte zwischen eigennützigen, individuellen Überzeugungen und der epistemischen Qualität kollektiver Entscheidungen. in: Vogelmann & Nonhoff (Hrsg.): Demokratie und Wahrheit, Nomos: 265 – 288.
- Henning Bergmann, Hanna Bäck, Thomas Saalfeld 2022: Party-System Polarisation, Legislative Institutions and Cabinet Survival in 28 Parliamentary Democracies, 1945–2019. West European Politics 45(3): 612–637.