Europa im Kleinen

Von Jakob Walosczyk

Nach dem vorbereitenden Seminar „Literarisches Galizien“ im vergangenen Wintersemester machte im Mai eine Gruppe von Bamberger Studenten unter der Leitung von Dr. Daniel Schümann auf Erkundungsreise in eine Region, die wie keine zweite von kultureller und literarischer Vielfalt geprägt ist. Die Exkursion wurde aus Studiengebühren der Fächer Slavische und Neuere deutsche Literaturwissenschaft (Prof. Dr. von Erdmann, Prof. Dr. Marx) gefördert.

Das südöstliche Polen und die nordwestliche Ukraine? Es dauert, ehe man diese Landschaft benennen kann. Dabei ist es kaum einhundert Jahre her, dass Galizien ein fester Bestandteil des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates war und Wiener Baumeister ihre Prachtbauten noch am Fuße der Karpaten errichten konnten. Über Jahrhunderte prägten die Metropolen Krakau und Lemberg das Erscheinungsbild Galiziens – einer multiethnisch geprägten Region, in der ukrainische, polnische, jüdische und deutsche Bevölkerung, um nur die wichtigsten Gruppen zu nennen, in einer nicht immer spannungsfreien Konstellation neben- und miteinander existierten. Heutzutage hat, wer von Krakau nach Lemberg reisen will, eine Grenze zu überqueren, Geld aus einer Währung in eine andere zu tauschen, sich eilig mit einem fremden Alphabet vertraut zu machen und auch sonst einiges in Kauf zu nehmen. Was eine erste kurze Bemerkung zur Historie der Gegend notwendig macht: Mehr als anderthalb Jahrhunderte lang bildete Galizien eine territoriale Einheit, die trotz Zugehörigkeit zu wechselnden Staatsgebilden (zunächst der Donaumonarchie und schließlich der Republik Polen) bis zum 2. Weltkrieg Bestand hatte. Erst 1945 wurde ihre Teilung in einen sowjetischen, seit 1991 ukrainischen, und einen polnischen Teil vollzogen.

Erste Station unserer Reise war Krakau, die ehemalige Königsstadt, die manchem Polen noch immer als eigentliches Zentrum der Nation gilt. Die Metropole an der Weichsel unterscheidet sich, zumindest auf den ersten Blick, kaum von den Metropolen des Westens: frisch renovierte Gebäude aus vergangenen Jahrhunderten, Cafes, Bars und Restaurants, schicke Einkaufsmeilen und die obligatorischen Touristengruppen, denen in allen Sprachen der Welt Krakauer Geschichte und Geschichten nähergebracht werden. Besonders der Hauptmarkt und seine unmittelbare Umgebung haben es in sich, alles hier erzählt von der Bedeutung, die die Stadt einmal hatte. Die Fassaden erstrahlen in neuem Glanz, die Kirchen und Schlösser, in denen polnische und galizische Geschichte geschrieben wurde, sind prachtvoll und die berühmten Tuchhallen mit ihrer Sammlung polnischer Malerei im ersten Stock und einem Andenkenmarkt im Erdgeschoss bilden eine Anlaufstelle für Kunstsinnige und Souvenirjäger zugleich. Auch in literarischer Hinsicht hat Krakau einiges zu bieten. Spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist die Stadt immer wieder zum Mittelpunkt literarischer Strömungen geworden und war Anziehungspunkt für Dichter und Denker, die ihr Erscheinungsbild nicht unwesentlich prägten. Die wohl auffälligsten Spuren hinterließ dabei Stanisław Wyspiański, der um das Jahr 1900 nicht bloß als Dichter, sondern auch als Maler in Erscheinung trat und dessen Glasfenster nach inzwischen mehr als einhundert Jahren noch immer die Franziskanerkirche unweit des Hauptmarktes zieren. Seinem in Polen vielgelesenen und vielgespielten Stück „Wesele“ (Die Hochzeit) dagegen verdankt Krakau sein vielleicht interessantestes Literaturmuseum. Ein ehemaliges Bauernhaus am Rande der Stadt, Handlungsort des Stückes, dessen Grundlage die Hochzeit eines engen Freundes des Autors war, bietet Literatur hautnah: Hier berichtet die Enkelin des damaligen Bräutigams aus erster Hand über  Dichtung und Wahrheit und vermittelt zudem einen sehr lebendigen Eindruck vom gesellschaftlichen Klima im Krakau des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Untrennbar verbunden mit der literarischen Tradition des Stadt ist auch die reiche jüdische Kultur, die Krakau über lange Jahre zu einem Zentrum der jiddischen Literatur in Europa machte und mit dem Zweitem Weltkrieg ihr Ende fand: Von 64 000 Krakauer Juden im Jahr 1939 lebten bei der Befreiung der Stadt 1944 noch gerade einmal 4 000 und auch diesen Wenigen erging es im Polen der Nachkriegszeit zunächst alles andere als gut, so dass in Kazimierz jahrzehntelang nur verwaiste Synagogen an dieses Stück Krakauer Stadt- und Literaturgeschichte erinnerten. Erst seit der Wende von 1989 kann von so etwas wie einer Wiedergeburt des jüdischen Krakau gesprochen werden, und sei es auch nur vornehmlich in Gestalt jüdischer Reisender aus der ganzen Welt, die der Heimat der Väter ihre Aufwartung machen.

Nach diesen Eindrücken ging es weiter über die Grenze, in die Ukraine und nach Lemberg. Aber von Lemberg sollte man nicht vorschnell sprechen, schließlich handelt es sich um eine Stadt mit vielen Namen: L’viv, Lwów, L’vov und mindestens ein halbes Dutzend weiterer Bezeichnungen in Sprachen wie Armenisch und Weißrussisch zeugen von der Bedeutung des Ortes und seiner bunt gemischten Bevölkerung. In viel höherem Maße als Krakau war die Stadt ein Ort der Begegnung von Kulturen, von denen jede bleibende Spuren hinterließ. Eine Führung durch die Stadt, veranstaltet für uns von Lemberger Germanistikstudenten, führte vorbei an orthodoxen, katholischen, protestantischen, armenischen und jüdischen Gotteshäusern, Denkmäler für Dichter unterschiedlichster Nationalität und Zunge säumten den Weg. Gleich vier Literaturen waren in der Vergangenheit in Lemberg und seiner Umgebung beheimatet. Der Österreicher Joseph Roth stammte aus der Gegend und kehrte in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder in dieses Land seiner Kindheit und Jugend zurück. Bedeutende polnische Dichter wie Bruno Schulz beschworen in ihren Werken die multikulturelle Atmosphäre des Ortes herauf. Die ukrainische Literatur verdankt der Gegend mit Ivan Franko ihren zweiten großen Dichterfürsten neben Tarras Ševčenko. Und wie Krakau war auch Lemberg lange Zeit ein Zentrum des jiddischen Schrifttums, mit Zeitschriften, Theatern und entsprechenden Verlagen.

Nur leider heißt es auch hier, Untergegangenes in den Blick zu nehmen. Auch in Lemberg hinterließ der Krieg seine Spuren, wenn auch der Schaden ähnlich wie in Krakau nicht in zerbombten Straßenzügen anzugeben ist. Rund 130 000 Lemberger Juden verloren in den Vernichtungslagern der Deutschen ihr Leben, was so gut wie das Ende der jüdischen Kultur in der Stadt bedeutete, die jahrhundertelang einen nicht geringen Teil zu ihrem Erscheinungsbild beigetragen hatte. Zusätzlich dazu wurden nach der Grenzziehung von 1945 noch einmal ebenso viele Bürger polnischer Herkunft v. a. nach Niederschlesien umgesiedelt, so dass Lembergs Bevölkerungsstruktur sich in nur wenigen Jahren fundamental wandelte und von den drei stärksten Bevölkerungsgruppen, Ukrainern, Juden und Polen, nur der ukrainische Teil erhalten blieb. Nicht dass von der Vielfalt Lembergs heute nichts mehr übrig wäre – sie existiert in zahlreichen Nischen weiter und erlebt seit dem Ende der sowjetischen Zeit sogar eine spürbare Belebung, doch ist Lemberg heute vor allem eine ukrainische Stadt, die sich freilich seit der Unabhängigkeit in Richtung Westen und der Europäischen Union orientiert.

So endete die Galizienreise in Lemberg, dem Europa im Kleinen, dessen Geschichte sowohl das friedliche Zusammenleben der Völker wie auch die schwärzesten Stunden europäischer Zivilisation ihren Stempel aufdrückten und das durch die Ausrichtung auf das zusammenwachsende Europa Anschluss an eine Gemeinschaft sucht, wie es sie dem Westen über Jahrhunderte selbst vorgelebt hat.