Anton Čechovs Dramen als Welttheater

Anton Čechovs Dramen – "Die Möwe", "Onkel Vanja", "Drei Schwestern", "Der Kirschgarten" – veränderten das russische Theater als Kunstform (Dramenschaffen, Inszenierungsstil, Schauspielkunst) innerhalb weniger Jahre von Grund auf und übten zusammen mit Stanislavskijs Inszenierungsmethode einen prägenden Einfluß auf das gesamte europäische Theater, ja das Theater der Welt aus. Sie bringen gegen Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts eine neue Sicht der Welt und des Menschen auf die Bühne. Wenngleich Čechov in seinem Selbstverständnis und seinen Äußerungen unverkennbar Distanz zu den Symbolisten und Dekadenten hielt, bewegte sich seine Dramenkonzeption doch in einem schmalen Grenzbereich zwischen Realismus und Frühsymbolismus: Die banale Intrige der Stücke wurde durch vieldeutige Symbole (Möwe, Reise nach Moskau, Kirschgarten) in einer Weise überhöht, die weit über die Möglichkeiten des Realismus hinausging. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts deutet Čechov die historischen Veränderungen und die Beschleunigung der Moderne nicht als einseitig linearen Vorgang: Er arbeitet bereits in der "Möwe" mit komplexen Zeitmustern und Zeitfiguren und gibt zugleich dem Raum (vor allem dem Haus in verschiedenen Variationen) erhebliche Bedeutung. Seine Dramen setzen Vorstellungen über die lineare chronologisch meßbare Zeit außer Kraft und stellen stattdessen die Einwirkung der Zeit auf den Menschen dar. Čechovs Menschen befinden sich im Zustand des Überganges und sind daher nur wenig in der vorübergehenden Gegenwart zuhause, sondern auf die Vergangenheit oder Zukunft ausgerichtet. An ihnen wird deutlich, daß die Welteroberung der Neuzeit auch mit einem Weltverlust einhergeht. Die Menschen sind nach dem Verlust der großen Autoritäten „vaterlos“. Ihre „Vaterlosigkeit“ bedeutet nicht zuletzt, daß sie auf eine endgültige Wahrheit verzichten müssen oder schon verzichtet haben. Nach diesem Verlust treten die Grenzen menschlichen Handelns noch deutlicher hervor. Werden die „Vaterlosen“ einander zumindest ertragen, d.h. in erster Linie ihre eigene Bedeutungslosigkeit ertragen? In einer Zeit, in der immer deutlicher (ökologische) Grenzen der modernen Selbstbezüglichkeit erkennbar werden, gilt es Welt und Wirklichkeit wiederzugewinnen, ohne in neue Dogmatik zu verfallen. Bei dieser Suche kann das Theater Čechovs Wegweiser sein.

Zur Person: Wolfgang Stephan Kissel, geb. 1957, Professor für Kulturgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas an der Universität Bremen, Forschungsschwerpunkte: Russische Literatur und Kultur des 18.-20. Jahrhunderts, insbesondere Reiseliteratur, Memoirenliteratur und Autobiographik, Exilliteratur in Ost- und Ostmitteleuropa (Einzelstudien zu Nabokov, Gombrowicz, Crnjanski), Orientalismus in slavischen Kulturen, Kultur- und Zivilisationstheorie. Von 2001 bis 2004 Leiter des DFG-Projekts „Russische Erinnerungsliteratur und die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts“ am Zentrum für Literaturforschung, Berlin, von 2003 bis 2006 Ko-Leiter des VW-Projekts „Die Blicke der Anderen. Reisen zwischen den Metropolen Berlin, Paris, Moskau in der Zwischenkriegszeit“. Neuere Veröffentlichungen: „Die Moderne“ in: "Russische Literaturgeschichte", Metzler Verlag, Stuttgart 2002, "Der Kult des toten Dichters und die russische Moderne", Köln/Weimar 2004, (Mithg.), "Exklusion. Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts", München 2006.

Zu diesem Vortrag ergeht herzliche Einladung.
    
PROF. DR. ELISABETH VON ERDMANN (Slavistik)  

PROF. DR. ALBERT GIER (Romanistik)