"Alix, Anton und die anderen" besticht vor allem durch sein außergewöhnliches Layout (Fotos: Carolin Regler).

Autorin Katharina Hacker und Gastgeber Friedhelm Marx.

Katharina Hacker im Gespräch mit Studierenden...

... und beim Signieren.

- Carolin Regler

Eselsbrav? Nein, danke!

Lesung mit Katharina Hacker

„Wie liest man das?“ ist die erste Frage, die sich der Leser stellt, wenn er diesen großformatigen Band aufschlägt. Katharina Hackers jüngstes Werk „Alix, Anton und die anderen“, aus dem die Autorin am 21. Januar im Rahmen der Reihe „Literatur in der Universität“ las, durchbricht den traditionellen Textfluss und teilt die Geschichte auf zwei Spalten auf. Der Rezipient hat die Wahl: Er kann zuerst nur eine Spalte lesen, dann das Buch noch einmal von vorne beginnen und die zweite Spalte lesen. Oder er wechselt seiten-, ja vielleicht sogar absatzweise hin und her. Aber – worum geht es eigentlich?

Kinderlosigkeit, Kindstod, Tod

„Alix, Anton und die anderen“ erzählt das Leben von vier Freunden über vierzig: Alix, Jan, Bernd und Anton. Alix ist Graphikerin und arbeitet zuhause. Gerne hätte sie ein Kind gehabt, aber ihr Ehemann Jan ist dagegen. Angeblich, um sie zu schützen – denn Alix ist zart, vielleicht psychisch labil. Als Ersatz hat Jan ihr eine Katze geschenkt, um die Alix sich kümmern darf. Jan selbst ist Psychotherapeut, hat allerdings den frühen Tod seiner Eltern nicht verarbeitet.
Die Figur Alix habe Gemeinsamkeiten mit der Schriftstellerin Virginia Woolf, erzählte Katharina Hacker. Überhaupt habe das ganze Erzählprojekt viel mit ihr zu tun: Wie Alix blieb auch Woolf aufgrund psychischer Probleme und auf Betreiben ihres Mannes kinderlos und bedauerte dies ihr Leben lang.

Statt einer Familie haben Alix und Jan Freunde. Da ist zum einen Bernd, der sein Medizinstudium abgebrochen hat und als Buchhändler auf der Suche nach dem Mann fürs Leben ist. Und Anton, praktischer Arzt und seinerseits auf der Suche nach einer Frau, die mit ihm eine Familie gründen möchte. Hinzu kommen noch Alix’ Eltern, deren Erstgeborener im See ertrank, sowie die vietnamesische Einwanderin Mai Linh, Mutter einer toten Tochter,  und deren Umfeld, zu dem auch chinesische Schutzgelderpresser zählen (die ebenfalls Kinder töten).
Es ist eine kleine Veränderung im Alltag der Figuren, der die Handlung in Gang setzt: Die Freunde laden Alix’ Eltern zum Essen ein, statt zu ihnen nach Hause zu kommen. Dieser Bruch in der Gewohnheit hat Folgen. Später macht Alix eine Reise. Und Anton lernt eine Frau kennen.

Spielerei oder Erzählexperiment?

„Wie wird Katharina Hacker das vorlesen?“ haben sich die Besucher vor der Lesung gefragt. Die Antwort war schnell gefunden: Sie hat die Simultanität der parallel verlaufenden Stränge aufgebrochen und den Text zusammengesetzt, auf ihre Weise. Mitten in Absätzen hat sie die Spalten gewechselt und so eine einzigartige Lesart generiert. Nach der Veranstaltung berichtete die Autorin, dass sie sich bereits seit 2005 mit dem Stoff von „Alix, Anton und die anderen“ beschäftigt habe. Die Idee mit den zwei Spalten beschreibt sie als Glücksfall: „Endlich hatte etwas Platz, was vorher immer abgeschnitten wurde, sozusagen ein das Notwendige übersteigender Reichtum.“ In früheren, „gebührlich erzählten“ Texten habe sie „ganz eselsbrav“ vor sich hin geschrieben – demgegenüber steht die neue Freude an der Offenheit, die Begeisterung für die Lücke.

Wie aber steht es mit der dritten Fragen des Abends aus, die Prof. Dr. Friedhelm Marx in seiner Einführung gestellt hat: „Was leistet dieses erzählerische Verfahren“? Seiner Meinung nach lehrt es den Leser Misstrauen gegen die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Figuren. Durch Perspektivwechsel und Überlagerungen entsteht ein facettenreiches Textgewebe – das allerdings in alle Richtungen ausfranst. Auf der Website von Katharina Hacker ist ein zusätzliches Kapitel zu finden, ohne das „Alix, Anton und die anderen“ nicht komplett sei, wie die Autorin sagt. Fortgeführt wird das Projekt im Mai 2010 mit dem Roman „Die Erdbeeren von Antons Mutter“. In diesem klassisch gelayouteten Text wird es um Anton gehen, dessen Mutter an Demenz erkrankt, womit auch ein Teil seiner eigenen Existenz verschwindet: das vertraute Land der Kindheit.

Nach diesem Intermezzo plant Katharina Hacker, die Fäden aus „Alix, Anton und die anderen“ in gewohnt zweispaltiger Weise weiterzuführen. Worauf dieser auf mehrere Bände angelegte Romanzyklus hinausläuft, darüber kann nach den ersten, extrem offenen 125 Seiten nur spekuliert werden: Es scheint der Autorin um Menschen in der Lebensmitte zu gehen, die reflektieren, was sie erreicht haben und erkennen, dass sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen müssen, um die zweite Lebenshälfte zu meistern.

Die Fingerfertigkeit des abstrakten Malers

„Nur der Anfänger bricht die Regel.“ Dies war laut Hacker die Reaktion ihres Schriftsteller-Kollegen Thomas Lehr, als sie ihren ungewöhnlichen Plan angesprochen habe. Auch deshalb werde „Die Erdbeeren von Antons Mutter“ wieder im traditionellen Format erscheinen, erläuterte Hacker. „Das ist wie wenn ein abstrakter Maler zwischendurch auch mal wieder einen Esel malt, mit Hufen und Beinen und allem was dazu gehört. Eine Art Beweis der eigenen Fingerfertigkeit.“

„Alix, Anton und die anderen“ stellt nicht nur formale Konventionen in Frage, sondern markiert auch Hackers Trennung von ihrem Verlag. Das Haus Suhrkamp sei „wohl in mehrfacher Weise überfordert“ gewesen mit diesem Text, mutmaßte Friedhelm Marx vor der Lesung. Am Ende ermunterte er das Publikum, am Büchertisch Suhrkamp-Bücher zu erwerben, dann aber im Mai in der beim S. Fischer Verlag erscheinenden Fortsetzung „Die Erdbeeren von Antons Mutter“ weiterzulesen.