Sabine Freitag

- Uni-NEWS-Redaktion

Lehrstuhl als Forum für kritische Diskussion

Gestatten, Sabine Freitag, Historikerin!

 

Akademisches Leitbild

Worin besteht Ihr Selbstverständnis als Professorin?

Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen möchte ich vor allem für mein Fach begeistern. Auch wenn der Begriff ein wenig abgenutzt erscheint: Ich sehe mich in der Rolle einer Vermittlerin, nicht so sehr im Sinne reiner Wissensvermittlung als vielmehr im Sinne einer Anregung der Studierenden zur eigenen kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und zur Schärfung ihrer Urteilskraft. Ein Studium sollte das am Ende doch primär leisten. Ich wünsche mir, dass sich der Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte zu einem echten Forum offener und kritischer Diskussion entwickelt. Ein solches Forum bietet die beste Grundlage für eigene Forschung und gezielte Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Inhaltlich orientiere ich mich mit großem Vergnügen an der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Fakultät. In den Lehrveranstaltungen möchte ich mich der westeuropäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur über die bekannte Politikgeschichte nähern, sondern bevorzugt auch über kulturhistorische Fragestellungen und Themenschwerpunkte Dazu zählt zum Beispiel die Wissenschaftsgeschichte, wobei mich besonders die Protagonisten und Stichwortgeber, die an diesem „Kampf um Deutungshoheit“ teilgenommen haben, interessieren. Um die unterschiedlichen „Mentalitäten“ und kulturellen Milieus innerhalb Europas dann gewinnbringend und erkenntnisreich zu erschließen, bedarf es des systematischen Vergleichs. Und gerade hier profitiert man außerordentlich von der Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen des Instituts und der Fakultät.

Warum sollte man heute Ihr Fach studieren?

Wenn ich es recht sehe, gibt es gerade in den letzten Jahren einen Konjunkturaufschwung für historische Themen. Es besteht offensichtlich ein recht großes Bedürfnis nach Aufklärung, oder sagen wir besser: nach überzeugender oder plausibler Interpretation der Vergangenheit. In einer Welt, die immer komplexer und globaler wird, ist die Geschichtswissenschaft gerade dabei, sich in gewisser Weise als neue Leitdisziplin zu profilieren, weil ihre zentrale Aufgabe gerade darin besteht, die unterschiedlichen Bestandteile dieser Weltentwicklung aufzuklären, zu erläutern, zu interpretieren und zu deuten. Ich bin nicht der Auffassung, dass man aus der Geschichte „lernen kann“, und dennoch steht sie für ein Orientierungswissen, das es einem ermöglicht, Zusammenhänge zu erkennen, die eine oberflächliche Betrachtung nicht zulassen würden.

Haben Sie ein besonders wichtiges/schönes/spannendes Forschungsprojekt, über das Sie gerne berichten möchten?

In Anknüpfung an meine Habilitation über „Science and Citizenship“ erforsche ich weiterhin den Zusammenhang zwischen der Entwicklung wissenschaftlicher Theorien über den Menschen (sowohl in den Natur- als auch Sozial- und Humanwissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts) und den politischen Systemen und historischen Kontexten, in denen diese Theorien entwickelt werden. Dabei interessieren mich nicht nur bestimmte länderspezifische Wissenstraditionen und Rationalitätsvorstellungen in Westeuropa, sondern auch die sich daraus ergebenden Handlungslogiken und Instrumentalisierungen. Dazu gehört dann zum Beispiel die Bildungspolitik in England, Frankreich oder Deutschland.

Rund ums Studieren

Worin besteht für Sie der größte Unterschied zwischen Ihrer Studienzeit und der heutigen Situation der Studierenden?

Die Massenuniversität der achtziger Jahre lässt sich auch in der Rückschau nicht verherrlichen, aber sie hatte doch einen strukturellen Vorteil. Die meisten Studiengänge waren nicht so eng getaktet, wie es heutige Bologna-Studiengänge sind. Bildung braucht Zeit, ebenso wie die Erforschung eigener Interessen und Begabungen. Ich habe zunächst Medizin studiert und erst die Erfahrung mehrerer Semester in diesem Studiengang und während meiner Praktikumszeit im Krankenhaus hat mir klar gemacht, dass das nicht meine Berufung ist. Diese Erfahrung war aber wichtig. Es wäre schön, wenn die heutigen Studierenden mehr Zeit hätten, sich einfach mal in etwas vertiefen zu können, was sie wirklich interessiert, ohne gleich danach fragen zu müssen, ob es sich in Form von ECTS Punkten „verwerten“ lässt.

Wie haben Sie Ihr Studium finanziert?

Neben dem Geld, das ich von meinen Eltern erhielt, und der Anstellung als wissenschaftliche Hilfskraft am Historischen Seminar der Goethe-Universität in Frankfurt nach meiner Rückkehr aus Rom, habe ich seit dem Abitur als Briefträgerin gearbeitet.

Was wäre, wenn...

Welche Berufe wären für Sie noch in Frage gekommen und warum?

Als junges Mädchen wollte ich unbedingt Meeresbiologin werden. Ich stellte es mir ungeheuer spannend vor, mit einem Team über die Weltmeere zu schippern, in diese ganz eigene, unbekannte Welt hinab zu tauchen und ihr einige Geheimnisse zu entlocken. Irgendwann ist diese Phantasie dann untergegangen.

Mit welcher historischen Persönlichkeit würden Sie sich gerne einmal unterhalten?

Es wären gar nicht die ganz Großen der Weltgeschichte, die mich interessieren würden, sondern eher Menschen, deren Leben nicht unbedingt gradlinig verlief und die sich manchmal in politischen Positionen wiederfanden, die sie so gar nicht intendiert hatten, zum Beispiel der Schriftsteller und Dissident Václav Havel.

Reisen und fremde Länder

In welches Land reisen Sie gerne?

In den letzten zehn Jahren definitiv nach Frankreich, am liebsten an den Atlantik und ans Mittelmeer.

In welchem Land könnten Sie sich vorstellen zu leben?

England. Ich habe sechs Jahre am Deutschen Historischen Institut in London gearbeitet. Natürlich hat sich Großbritannien auch verändert, aber es steht für mich immer noch für die „drei großen Hs“: Haltung, Höflichkeit und Humor.

Tugend und Laster

Verraten Sie uns Ihren größten Fehler?

Bleiben wir einfach bei einem Laster, zu dem ich mich bekenne: Schokolade. Ich neige auf Schweizer Autobahnraststätten zu Hamsterkäufen.

Was schätzen Sie bei Ihren Freunden am meisten?

Dass sie meine Freunde sind. Es gibt diese biographisch gewachsene Solidarität und Treue, die sich allem widersetzt, was wir aus den gewöhnlichen Geschäfts-, Berufs- oder Marktbeziehungen kennen. Das zeichnet meines Erachtens Freundschaften aus.

Lebensmotto & Lebenspraxis

Haben Sie ein Lebensmotto?

Ehrlich gesagt: nein. Aber ich habe ein Faible für Sprüche, die Ideologien (beispielsweise diesen Schönheits- und Gesundheitswahn, von dem ganze Industrien leben) ad absurdum führen, zum Beispiel „Auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot.“

Welche natürliche Gabe würden Sie gerne besitzen?

Sehr einfach: singen. Ich bewundere schöne Stimmen - ob klassisch oder populär.

Sport, Musik, Kultur

Haben Sie ein Lieblingsbuch?

Da gibt es zum Beispiel Zsuzsa Bánks Der Schwimmer, Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene oder Wolfgang Herrndorfs Tschick. Diesen Romanen gelingt es, eine historische Vergangenheit so verdichtet und plastisch auferstehen zu lassen, dass man sie förmlich riechen kann. Historikerinnen und Historiker müssen neidlos anerkennen, dass sie mit ihren Arbeiten hinter einer solchen Kunst weit zurückbleiben.

Haben Sie einen Lieblingsfilm oder eine Lieblingsfernsehserie?

Für meine Lieblingsfilme gilt das Gleiche wie für gute Romane: Die Dimensionen der Zeit und die Darstellung der Vergänglichkeit menschlicher Existenz gelingen eigentlich nur im Roman oder im Film überzeugend. Zu sehen ist das zum Beispiel in Luchino Viscontis Ludwig II., Ettore Scolas La Famiglia oder Ang Lees Ride with the Devil über den amerikanischen Bürgerkrieg und eine verheizte und illusionslos gewordene junge Generation.

Leben in Bamberg

Was schätzen Sie an Bamberg?

Die Schönheit der Stadt, mit ihren Blickachsen und Perspektiven und natürlich die Regnitz und der Kanal. Dann gleichauf die vielen Bäckereien. Wenn sie aus einer Großstadt kommen, wo die Teiglinge der dominierenden Großbäckereien alle gleich schmecken, kommt es einer Offenbarung gleich, wenn Brot nach Brot schmeckt und je nach Bäckerei auch immer anders.

Haben Sie schon einen Lieblingsplatz oder eine Lieblingslokalität in Bamberg?

Am liebsten mag ich den Blick auf die Villa Concordia vom gegenüberliegenden Ufer in der Dämmerung, wenn sie beleuchtet wird, davor die dunkle Regnitz und in einigen Fenstern im daneben liegenden Künstlerhaus Licht. Ich male mir dann immer aus, wie gut es sich in einem solchen Ensemble arbeiten lässt.

Kurzvita

1982-84 Medizinstudium in Marburg/Lahn, dann Studienfachwechsel zu Germanistik, Philosophie und Mittlere und Neuere Geschichte in Frankfurt am Main und Rom; 1991 Magister Artium; 1995 Promotion im Fach Neuere Geschichte; 1991-96 Wiss. Mitarbeiterin im Historischen Institut der Deutschen Bank AG in Frankfurt am Main für verschiedene historische Gesellschaften; 1996-2002 Wiss. Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut in London; 2003-2007 Wiss. Mitarbeiterin im Schwerpunktprogramm „Wissenschaft, Staat und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Vergleich“ an der Universität zu Köln; 2009 Habilitation in Köln; 2009-2012 Lehrstuhlvertretungen in Frankfurt, Kiel und München; seit 1. Mai 2012 Professorin für Neuere und Neueste Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg.