- Pressestelle

Kulturelle Übersetzungsfähigkeit als Kompetenz

Der Historiker Malte Rolf stellt sich vor

I. Akademisches Leitbild

Warum sollte man heute Geschichte studieren?

Wenn man Geschichte studiert, befasst man sich viel mit dem Gewordensein der Gegenwart. Es geht dabei weniger darum, „aus der Geschichte zu lernen“. Wobei das Nachdenken über die Probleme der Gegenwart natürlich auch von dem Bild beeinflusst wird, das wir uns von „der Geschichte“ machen. Wichtiger aber scheint mir, dass wir verstehen, welchen Grenzen und Veränderungen kulturelle und politische Phänomene unterworfen sind. Nehmen wir das Geschichtsbewusstsein im west-osteuropäischen Vergleich als Beispiel: Welchen Stellenwert Geschichte für den Alltag hat, muss aus der Entwicklung des jeweiligen Raumes heraus erklärt werden.

In Ost- und Ostmitteleuropa besteht bis heute eine Tradition jener Gründungsmythen, die von den jeweiligen Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert formuliert worden waren. Viele dieser Nationalmythen wurden nach 1945 sogar in die Erzähltradition des Kommunismus integriert und werden auch in der postkommunistischen Zeit zur Legitimierung genutzt. Man bewegt sich damit in Osteuropa in einem sehr „geschichtsbelasteten“ Raum, in dem der Verweis auf die Geschichte ganz wesentlich zum Kernbestand der heutigen politischen Kultur, aber auch der Alltagserfahrung der Menschen gehört. Da ist es ein Schlüssel zum Verständnis dieser Gesellschaften, Fragen nach solchen Zusammenhängen zu stellen. Zugleich reflektiert man beim Geschichtsstudium die Wandelbarkeit der Lebenswelten. Eine solche Reflexion erleichtert ein kulturübergreifendes Verständnis auch in zahlreichen anderen Kommunikationssituationen.

Sie sehen, ich betone den Gegenwartsbezug der Geschichte und das historische Denken als grundsätzliche kulturelle Kompetenz für Historiker. Aber natürlich möchte ich nicht verschweigen, dass das Studium der Geschichtswissenschaften immer auch bedeutet, dass man sich mit interessanten Geschichten der Vergangenheit befasst. Für mich stellt das einen ganz eigenen Wert dar: Das Erforschen und Erzählen von Geschichten ist genauso spannend wie die Lektüre eines guten Romans.

Worin besteht Ihr Selbstverständnis als Professor?

In der Lehre ist es mir ein zentrales Anliegen, sowohl Inhalte über die jeweiligen historischen Kontexte zu vermitteln, als auch den Studierenden Denkanstöße zu geben. Sie sollen über das Gewordensein der Gegenwart nachdenken. Einerseits ist danach zu fragen, wie soziale, kulturelle und ökonomische Strukturen historisch gewachsen sind. Andererseits sollen die Studierenden darüber reflektieren, welche zeitliche und kulturell-geographischen Grenzen die vermeintlich selbstverständlichen Dinge unserer Gegenwart haben.

Ich will also damit auch kulturelle Übersetzungsfähigkeit als Kompetenz vermitteln. Denn das Verstehen anderer historischer Zusammenhänge, fremder Sinn- und Deutungswelten ist ja immer eine Übersetzungsleistung, in der die eigene und die fremde Wirklichkeit miteinander in Beziehung gesetzt werden. Zu meinem Selbstverständnis als Geschichtsprofessor gehört dabei ebenso, dass ich versuche, diese Einsichten in außeruniversitären Kontexten zu vermitteln.

Im Bereich Forschung stehen für mich eigene Projekte und die Förderung von Forschungsarbeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses gleichberechtigt nebeneinander. Ich möchte meine eigene historische Forschung nicht aus den Augen verlieren und selbst den nicht immer unbeschwerlichen Gang ins Archiv gehen. Ich zähle gleichfalls den internationalen Austausch zu Forschungsvorhaben – sei es in inner- oder auch interdisziplinärer Perspektive – zu den Kernbereichen meiner Tätigkeit. Im Feld der Geschichtswissenschaften ist hier durchaus noch einiges an Vernetzungsarbeit zu leisten.

Haben Sie ein besonders wichtiges Forschungsprojekt, über das Sie gerne berichten möchten?

Aktuell arbeite ich zusammen mit meinem Mitarbeiter Tim Buchen an dem Forschungsprojekt Imperiale Biographien in Vielvölkerreichen. Uns geht es in diesem Projekt darum, Lebensläufe und Karrieren im Habsburgischen, Russischen und Osmanischen Vielvölkerreich im Zeitraum von 1850 bis 1914 im Vergleich zu untersuchen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Eliten des Staatsapparates und den bürgerlichen Eliten wie Ärzte, Großunternehmer und Juristen. Gerade diese Personen arbeiteten an vielen verschiedenen Standorten im Reich. Das Spannende an diesem Projekt ist, dass wir diese berufliche Mobilität mit den Vorstellungen in Verbindung setzen, die die Eliten sich von den Imperien machten. Diese Analyse, wie solche Mobilitätsmuster und Sinnentwürfe ineinandergreifen, ermöglicht ganz neue Vergleichsmöglichkeiten: Welche Vorstellungen entwickelten die Eliten beispielsweise vom Russischen Reich, nachdem sie im Laufe ihrer Karrieren in Sibirien und im Kaukasus, in Polen oder im Baltikum zum Einsatz kamen? Was sahen sie als Zentrum, was als Peripherie des Reichsgefüges an? Welche politischen Schlüsse zogen sie aus ihren Erfahrungen räumlicher Mobilität? Wie prägten die reichsweiten Karrieren wiederum die Selbstbilder dieser mobilen Akteure?

II. Persönliche Fragen

Rund ums Studieren

Wie lange haben Sie studiert?

Etwa sieben Jahre, wenn man die zahlreichen Auslandsaufenthalte einrechnet.

Was sehen Sie als den größten Unterschied zwischen Ihrer Studienzeit und der heutigen Situation der Studierenden?

Modularisierte Studiengänge, Studienverlaufsplänen, Work-load und ECTS-Punkte – diese Vokabeln existierten zu meinen Studienzeiten noch nicht.

Wie haben Sie Ihr Studium finanziert?

Privat.

Wie haben Sie zu Studienzeiten gewohnt?

WG, Zimmermiete, später in einer kleinen Wohnung.

Was wäre wenn …

Welches Rätsel der Vergangenheit würden Sie gerne lüften?

Warum ich Geschichte studiert habe.

Mit welcher historischen Persönlichkeit würden Sie sich gerne einmal unterhalten?

Mit den Personen, über die ich in meinen Büchern geschrieben habe. Das betrifft sowohl diejenigen, die in der politischen und gesellschaftlichen Hierarchie weit oben standen – wie Lenin, Lunatscharski, Stolypin oder der Warschauer Generalgouverneur Skalon – als auch jene „normalen“ Menschen, über deren Alltag ich geforscht habe, beispielsweise der kleine zarische Beamte Apollon A. Benkewitsch, auf dessen Tagebuch ich in einem Archiv gestoßen bin.

Wie würden Sie ein freies Jahr nutzen?

Ich hätte Lust, irgendwann einen historischen Roman zu schreiben. Aber wahrscheinlich würde ich so wie zu Studienzeiten wieder auf Reisen gehen.

Reisen und fremde Länder

In welches Land reisen Sie gerne?

Mir fällt kein Land ein, in das ich NICHT gerne reisen würde.

In welchem Land könnten Sie sich vorstellen zu leben?

In den USA, in Polen, auch im Baltikum.

Sprechen Sie eine „exotische“ Fremdsprache?

Ich spreche Russisch, Polnisch, Litauisch und Spanisch, aber letzteres ist ja nicht besonders exotisch.

Wie verbringen Sie Ihren Urlaub am liebsten?

Mit meiner Familie in Litauen an der Ostsee. Da gibt es weite Strände, ordentliche Wellen, viel Wind und die schönsten Dünen.

Tugend & Laster

Was würden Sie als Ihre größte Stärke bezeichnen?

Hartnäckigkeit.

Verraten Sie uns Ihren größten Fehler?

Auch Hartnäckigkeit.

Was schätzen Sie bei Ihren Freunden am meisten?

Witz, Herzlich-, aber auch Verlässlichkeit.

Welchen Charakterzug an anderen Menschen mögen Sie gar nicht?

Eitelkeit.

Lebensmotto & Lebenspraxis

Was ist für Sie Glück?

Meine Familie.

Haben Sie eine Lieblingsbeschäftigung jenseits von Forschung und Lehre?

Ich bin gerne in der Natur, egal ob beim Bergesteigen, bei Kanufahrten, Wanderungen oder auch nur im Garten.

Sport, Musik, Kultur

Welche Sportarten mögen Sie (aktiv oder passiv)?

Ich muss gestehen: Ganz ordinär Fußball. Auch wenn ich nicht mehr aktiv spiele und als langjähriger und treuer Anhänger von Werder Bremen derzeit schwere Jahre durchlebe.

Haben Sie ein Lieblingsbuch?

Es gibt sicherlich nicht das eine Lieblingsbuch, schon alleine, weil mir verschiedene Bücher zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich wichtig waren. Aber gibt es eine kleine Zahl von Texten, von den ich sagen würde, dass sie mich in einer bestimmten Lebensphase intensiv beschäftigt und vielleicht auch beeinflusst haben. Dazu würden u.a. Frischs Stiller, Zweigs Schachnovelle, einige von Bunins Erzählungen oder auch Borges Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen zählen.

Leben in Bamberg

Was schätzen Sie an Bamberg?

Bamberg ist sehr lebensfroh, nicht nur wegen der vielen Keller. Die Überschaubarkeit der kleinen Stadt wirkt deshalb gar nicht beengend und die Altstadt scheint keinesfalls musealisiert. Wirklich ausgesprochen schön finde ich das Zusammenspiel von Stadt und Fluss.

In welchen Zusammenhang ist Ihnen Bamberg das erste Mal aufgefallen?

Im Geschichtsunterricht: Da wurde einmal der Bamberger Reiter behandelt. Ich kann mich an die Inhalte der Stunde natürlich nicht mehr erinnern. Aber das Bild des Reiters ist präsent geblieben. Der Dom war dann auch einer der ersten Orte, den ich bei meinem ersten Bamberger Besuch besichtigt habe.

Was fällt Ihnen im Vergleich zu Ihrer Heimatstadt besonders an Bamberg auf?

Die kurzen Wege. Nach mehr als 15 Jahren, die ich in Berlin verbracht habe, bin ich andere Distanzen gewöhnt. Daran haben auch die letzten Jahre in Bremen wenig geändert. In Bamberg bin ich immer wieder verblüfft, wie nah alles beieinander liegt.

Haben Sie schon einen Lieblingsplatz oder eine Lieblingslokalität in Bamberg?

Noch kenne ich die Stadt nicht besonders gut, aber ich mag den Spazierweg entlang der Regnitz am Mühlwörth oder auch den Ausblick vom Michelsberg.