Peter Stamm ist diesjähriger Bamberger Poetikprofessor. (Fotos: Karsten Becker)

Peter Stamm mit seinem Lektor Oliver Vogel und den Organisatoren der Poetikprofessur, Andrea Bartl (2. v. re.) und Kathrin Wimmer.

Auch dieses Mal ist die Veranstaltung sehr gut besucht.

Großen Andrang gab es auch zum Schluss, als Peter Stamm seine Bücher signierte.

„Ich misstraue originellen Büchern“

Poetikprofessor Peter Stamms erste Vorlesung an der Universität

Seine Romane erzählen von Lebenskrisen und Enttäuschungen, entfalten ihre Wucht jedoch oftmals über das, was die Leserinnen und Leser nicht erfahren. Warum eine Frage bessere Literatur entstehen lässt als eine Geschichte und welche Lebensstationen ihn als Schriftsteller prägten, erklärte der Schweizer Autor bei seiner ersten Vorlesung als Poetikprofessor.

Man könnte behaupten, Peter Stamm sei schon als Kind ein Meister der Auslassung gewesen. Im Alter von acht Jahren führte er in den Sommerferien Tagebuch. Die Einträge sind kurz. Nach der Nennung des Datums folgen ein, zwei Sätze, selten mehr: „5. Juli 1971: Am Morgen waren wir am Bach, nachher im Wald, und so weiter.“ Einen Tag darauf schrieb er: „Wir gingen nach Wergenstein. Es war schön, und so weiter.“ Und knapp zwei Wochen später: „19. Juli 1971, und so weiter.“

Heute gehört Peter Stamm zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. Wenige Minuten nachdem er hinter das Rednerpult trat und den ersten Vortrag seiner Poetikprofessur begann, sagt er: „Schriftsteller zu werden hat weniger mit dem Schreiben zu tun, als man denken könnte“. Im Saal kleben ungefähr 400 Augen an seinen Lippen. Aus dem Gang lugt eine Gruppe von etwa zehn Personen in den Raum hinein. Sie sind zu spät gekommen, um einen Sitzplatz zu ergattern. Zuhören wollen sie trotzdem und stehen dann eben.

„Am Anfang steht die Frage“

Für das, was seine Texte aussparen, ist Peter Stamm mindestens genauso berühmt wie für das, was sie erzählen. Als „Autor der leisen Töne“ kündigt auch Prof. Dr. Andrea Bartl den Schweizer Schriftsteller an und gibt damit den Startschuss zur diesjährigen Poetikprofessur. Bartl, Inhaberin der Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Kathrin Wimmer 2014 Organisatorin der Vorlesungsreihe, sieht Peter Stamm als „bestmögliche Besetzung“.

Stamms Bücher haben eine Leserschaft, die weit über den universitären Germanistikbetrieb hinausgeht. Sein 1998 erschienener Debütroman Agnes gehört mittlerweile zur Pflichtlektüre beim Baden-Württemberger Abitur, in den vergangenen 15 Jahren sind zahlreiche Erzählbände und Romane erschienen, etwa 2001 Ungefähre Landschaft, 2006 An einem Tag wie diesem oder 2011 Seerücken.

Dabei war dieser Weg keineswegs vorgezeichnet: „Ich gehöre nicht zu den Autoren, die schon immer schreiben wollten und mit acht oder zehn oder zwölf ihren ersten Roman verfassten.“ Stamm wuchs im Thurgau in der Schweiz auf, machte nach der Schulzeit eine kaufmännische Lehre und arbeitete zeitweise als Buchhalter in Paris. „Wenige Leute wussten, dass ich schrieb. Hätte ich aufgehört, kein Mensch hätte sich gewundert.“

Seine ersten literarischen Produktionen, etwa Hörspiele oder ein Romanentwurf, wurden von den Verlagen abgelehnt und nie veröffentlicht. „Zum Glück, muss ich wohl sagen.“ Das „endlose Und-so-weiter“ seines Sommerferien-Tagebuchs findet er heute auch in diesen Texten, die zwar etwas erzählten, aber nicht wüssten, wonach sie eigentlich fragen. Dabei könne Literatur nur umgekehrt funktionieren: „Am Anfang des Erzählens steht nicht die Geschichte, sondern die Frage.“

Das Schreckliche wird geschildert, nicht benannt

Vor etwa einem Jahr hielt sich Peter Stamm für einige Zeit auf dem Landgut Santa Maddalena in der Nähe von Florenz auf. Hier wohnte einst der Schriftsteller Gregor von Rezzori, seine Frau Beatrice Monti della Corte gründete nach dessen Tod eine Stiftung und lädt bis heute Autoren, die sie gerne liest, dazu ein, hier zu arbeiten. In Santa Maddalena begann Stamm mit der Arbeit für die Bamberger Poetikprofessur: Für eine Vorlesung, die im Frühling starten würde, fand Stamm „es angemessen, auch im Frühling zu schreiben“. Daraus ist der Text dieses Vortrags entstanden, der ähnlich vielschichtig ist wie viele seiner literarischen Texte.

Von der Rückblende auf die Zeit in Santa Maddalena schwenkt der Vortrag auf Momente in Peter Stamms Kindheit und Schulzeit – die Vorlesung trägt den Titel „Die Vertreibung aus dem Paradies“ –, auf seine Zeit als Buchhalter in Paris, die ihn „erwachsen gemacht hat“, bis zu seiner Rückkehr in die Schweiz. Immer wieder webt Peter Stamm Passagen aus seinen Büchern ein, einmal spielt er über die Lautsprecher einen Ausschnitt aus seinem Hörspiel Das Schweigen der Blumen (2005) ein. Die Poetikprofessur als intertextuelles und multimediales Ereignis.

Peter Stamms Bücher konfrontieren ihre Leserschaft häufig mit Leerstellen, vieles bleibt im Unklaren. Als in Agnes die gleichnamige Protagonistin am Ende des Romans verschwindet, ist nicht sicher zu sagen, was mit ihr geschehen ist. Ist sie tot? Ist sie nur weggelaufen? Und was fühlt eigentlich der Ich-Erzähler, der immerhin in einer Beziehung mit Agnes war? Wenn Schreckliches passiert, dann wird das Schreckliche geschildert, nicht benannt. Einen Satz wie: „Es war für ihn eine fürchterliche Situation“, wird man in Peter Stamms Texten nicht finden.

Seine Texte sind geprägt von der Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen, von feinfühligen Beobachtungen und immer wiederkehrender Enttäuschung. „Bis heute misstraue ich originellen Büchern“, sagt Peter Stamm. Etwa Büchern, die „sich in wenigen Sätzen, wenigen Stichworten zusammenfassen lassen“, oder solchen, „die oft schon auf die Verfilmung hin geschrieben zu sein scheinen“.

Zusammen mit Lektor Oliver Vogel zu Gast im Seminar

Am Tag vor dem ersten Vortrag hat Peter Stamm abends in der Bamberger Buchhandlung Hübscher aus seinem jüngsten Roman Nacht ist der Tag gelesen. In dem Buch verliert die Protagonistin Gillian durch einen Autounfall nicht nur ihren Ehemann, sie selbst wird schwer verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert. Ihr Gesicht ist entstellt. Der Roman geht auch der Frage nach, was eigentlich eine Person ausmacht. „Die Frage habe ich mir immer wieder gestellt“, sagt Stamm. „Welche Beziehung besteht zwischen meiner Persönlichkeit und meinem Äußeren?“ Starte man einen Text mit einer Frage, so hätten die Figuren Raum sich zu entwickeln und „eigene Wege zu gehen“.

„Auch ich lerne die Figuren meiner Texte erst beim Schreiben kennen“, sagte Peter Stamm, als er zusammen mit seinem Lektor Oliver Vogel vom S. Fischer Verlag wenige Stunden vor der Abendveranstaltung das begleitende Hauptseminar an der Universität besuchte. Die Studierenden hatten dabei Gelegenheit, Peter Stamm nach seiner Arbeitsweise und seinen Inspirationsquellen zu fragen. Außerdem bat der Besuch von Oliver Vogel die einzigartige Möglichkeit, die Funktionsweise des Autor-Lektor-Tandems authentisch zu erklären. Nach der anderthalbstündigen Seminarsitzung sagte Vogel, auch er habe heute einiges Neues aus dem Mund von Peter Stamm gehört, „wonach ich mich bisher nicht getraut hatte, ihn zu fragen“.

Weitere Veranstaltungen mit Peter Stamm

Schon in der kommenden Woche, am 22. Mai um 20 Uhr s.t. im Hörsaal U2/00.25, folgt die zweite Vorlesung Peter Stamms im Rahmen der diesjährigen Poetikprofessur. Der Titel steht bereits fest: „Das wiedergewonnene Paradies“. Am 12. Juni und 3. Juli, ebenfalls jeweils um 20 Uhr s.t. in U2/00.25, finden die weiteren Abendvorträge von Peter Stamm statt. Dabei wird er wieder Einblicke in sein Werk, sein Schreiben und seine Poetik geben.

Den Abschluss der Poetikprofessur bildet das Internationale Forschungskolloquium zum Werk Peter Stamms, das am 4. und 5. Juli im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia (Concordiastr. 28) stattfinden und Literaturwissenschaftler aus dem In- und Ausland, Theater- und TV-Schaffende sowie den Autor selbst in Dialog miteinander bringen wird. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen!

Die Poetikprofessur hat eine lange Tradition: Seit 1986 laden die Professorinnen und Professoren für Neuere deutsche Literaturwissenschaft jedes Jahr renommierte Autoren ein, die in einem Seminar für Studierende und in öffentlichen Vorlesungen Einblick in ihr Werk und ihren Schreibprozess geben.

Hinweis

Diesen Text verfasste Karsten Becker für die Pressestelle der Universität Bamberg. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.

Bei Fragen oder Bilderwünschen kontaktieren Sie die Pressestelle bitte unter der Mailadresse medien(at)uni-bamberg.de oder Tel: 0951-863 1023.