Annette Pehnt, die Poetikprofessorin 2011 (Fotos: Nils Ebert)

Felix Fabris Evagatorium: Landschaft mit dem Sinai und dem Katharinenkloster (Miniatur auf Pergament, Nürnberg um 1508/08, eingeklebt in der Abschrift von Felix Fabri: Evagatorium von der Hand Hartmann Schedels, Bayerische Staatsbibliothek Clm 189, Bl. 55r )

Annette Pehnt stellt ihr Schreibmaskottchen vor, den irischen König Sweeney

Signierstunde im Anschluss an den Vortrag

- Nils Ebert

Pilgerreise verspricht neues Leben

Annette Pehnt eröffnet Poetikprofessur 2011

Annette Pehnt behandelte im ersten von vier Vorträgen der Poetikprofessur 2011 am 9. Juni das Thema Rand und Mitte und las aus eigenen und fremden Texten. Die Vortragsreihe steht insgesamt unter dem Titel Evagatorium | Umhergeschweift: Schreiben als Pilgerschaft, und so begann die Poetikprofessorin mit einer allgemeinen Einführung in die Pilgerliteratur: Titelgebend für die diesjährige Poetikprofessur ist Felix Fabris Evagatorium von 1480, ein frühneuzeitlicher Bericht über eine Pilgerreise in das Heilige Land. Fabri war Dominikaner-Mönch in der Reichsstadt Ulm, wo er 1502 im Alter von 60 Jahren starb. Pehnt schilderte in ihrem Vortrag die Schwierigkeiten, mit denen sich Fabri konfrontiert sah, und hob die lebensbedrohlichen Umstände hervor, die eine Pilgerreise nach Jerusalem im 15. Jahrhundert mit sich bringen konnte: Seekrankheit, Überfälle, Verletzungen, Seuchen.

Schreiben als Pilgerschaft

Annette Pehnt sieht in der Pilgermetapher eine grundlegende Gemeinsamkeit ihrer Texte, die neben Romanen und Erzählungen auch Essays und Kinderbücher umfassen. „An diesen vier Abenden werden Sie mein Schreiben als Pilgerreise kennenlernen“, versprach die Autorin, die bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, so unter anderem mit dem aspekte Preis, dem Preis der Jury des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs und dem Italo-Svevo-Preis für herausragende deutschsprachige Autorinnen und Autoren. Entgegen aller Widrigkeiten und Risiken sei das Großartige am Pilgern immer schon gewesen, dass es eine Bewegungsrichtung gebe, idealerweise zum Besseren, verdeutlichte die Poetikprofessorin. Und so locke auch jedes Pilgerbuch mit dem Versprechen einer inneren Reinigung, eines neuen Lebens im alten Leben. Alles was man tun müsse, sei, einen neuen Weg zu gehen.

Ihre Poetikprofessur versteht die Autorin als eine Art Pilgerbuch mit vier Stationen. Am Auftaktabend stellte sie anhand unterschiedlicher Texte anderer Autoren zwei Arten des Pilgerns vor, um danach die Pilgermetapher in ihrem eigenen Werk zu analysieren: Zum einen gebe es die konkrete, die „real-fußgängerische“ Pilgerreise wie in Fabris Evagatorium aber auch in Hape Kerkelings Bestseller Ich bin dann mal weg von 2009. Daneben stehe die allegorische, die innere Pilgerschaft, wie sie sich in John Bunyans Pilgrim's Progress Ende des 17. Jahrhunderts finde. Ein Pilger namens Christ werde hier auf eine innere Reise zur ewigen Seligkeit geschickt. Entsprechend seien die Landschaften, durch die sich der Protagonist bewege, allegorisch aufgeladen. Jeder Wald und jeder Hügel stehe für einen seelischen Zustand, eine sündige Verlockung oder moralische Verfehlung. Die Geschichten der Poetikprofessorin behandeln vor allem die zweite, allegorische Art des Pilgerns. Ihre literarischen Figuren sind meist auf der Suche nach einem besseren, erfüllteren Leben.

Randständige Figuren auf der Suche nach einer Mitte

Für Annette Pehnt ist das Schreiben selbst ein Vorgang der Bewegung und Suche, auch wenn das moderne Schreiben mit Computertastatur statisch ausgeübt werde. Das Schreiben verspreche ähnlich wie das Pilgern eine Ankunft, wenngleich auch nur eine vorläufige. Ein Maskottchen für ihr eigenes Schreiben sei die Figur Sweeney aus der mittelalterlichen irischen Literatur, erzählte die Autorin. In der Einsamkeit des Waldes verwandelt sich der ehemalige König Sweeney in ein vogelartiges Wesen, wird zum Dichter und besingt in seiner Lyrik die Natur. Auch Sweeney streife umher, aus der Mitte seines Königreichs verschlage es ihn an den bewaldeten Rand. Wie Sweeney seien viele Figuren ihrer Romane „randständig und auf der Suche nach einer Mitte“, so die Poetikprofessorin. Sie bewegten sich von einem Ort zum anderen. In ihrem Debütroman Ich muß los von 2001 ist es der rätselhafte und scheue Protagonist Dorst, der sich pilgernd durch sein Leben bewegt, aber nirgends ankommt. Ruhelos trudelt er durch die Stadt, fährt Straßenbahn, trägt die alten Kleider seines verstorbenen Vaters. Elner, die Lehrerin an einer Grundschule ist, könnte ein Mittelpunkt seines Lebens werden. Sie versucht, Dorst zur Ruhe zu bringen, ist aber zum Scheitern verurteilt. Dorst schweift weiter umher und ist nicht zu zähmen. Dass Bewegung für Annette Pehnt etwas grundsätzlich Erstrebenswertes ist, zeigte sie zum Schluss: „Gute Reise!“, wünschte sie ihrem Publikum.

Weitere öffentliche Vorlesungen von Annette Pehnt:

Ein Mitschnitt des ersten Vortrags ist auf der Seite der Poetikprofessur eingestellt. Weitere Vorträge finden jeweils um 20 Uhr s.t. im Hörsaal U2/025 statt. Der Eintritt ist frei.

Donnerstag, 30. Juni 2011: „Himmel und Hölle“
Donnerstag, 07. Juli 2011: „Metapher und Gebet“
Donnerstag, 21. Juli 2011: „Hunger und Speisung“

Am 22./23. Juli 2011 schließt sich ein zweitägiges Kolloquium zum Werk der Autorin im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia an, bei dem Literaturwissenschaftler, Literaturkritiker, die Seminarteilnehmer und Annette Pehnt selbst über ihr Werk diskutieren.

Die Poetikprofessur hat eine lange Tradition: Seit 1986 lädt der Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft jedes Jahr renommierte Autorinnen und Autoren ein, die in einem Seminar für Studierende und in öffentlichen Vorlesungen Einblick in ihr Werk und ihren Schreibprozess geben.