Wolfgang Schlüter las aus seinem neuesten Roman "Die englischen Schwestern" (Fotos: Philipp Demling)

Ein "lebendes Bild": Lady Hamilton als Bacchante, als Teilnehmerin einer Kultfeier des Dionysos (Foto: Henry Bone 1803, JarektUploadBot/wikimedia/gemeinfrei)

Der Autor zusammen mit Organisator Friedhelm Marx

Gelegenheit zum Bücherkauf und Signieren nach der Lesung

- Philipp Demling

Von der Aufklärung zur Gegenwart und wieder zurück

Lesung mit Wolfgang Schlüter

Weiß-rot-blau weht der Union Jack im mediterranen Wind. Die helle Mittagssonne bringt die stolze Flagge noch besser zur Geltung. Doch die tatsächliche Situation auf dem britischen Kriegsschiff steht in krassem Widerspruch zu dieser zur Schau gestellten Erhabenheit: Die britische Flotte liegt vor Neapel und hat die „Nausea Nautica“, die Seekrankheit, an Bord. Mit Branntwein und Sauerkraut versuchen die Soldaten, ihre höllischen Kopfschmerzen zu vertreiben. Die Toten werden in ein Segeltuch genäht und, soweit es eben möglich ist, ordnungsgemäß bestattet. Wem die Glieder faulen, der bekommt meist keine Narkose – ohnehin nur in Form hochprozentiger alkoholischer Flüssigkeiten – denn die meisten Soldaten fallen beim Anblick der Säge sowieso in Ohnmacht.

Diese Szenerie stammt aus Wolfgang Schlüters 2010 erschienenen Roman Die englischen Schwestern, aus dem er am 31. Januar im Rahmen der Reihe Literatur in der Universität las. Die englischen Schwestern, das sind zwei Nichten von Benjamin Franklin, dessen politisches und kulturelles Wirken Schlüter neben vielen anderen historischen Anekdoten beschreibt. Es ist das Jahr 1798, die Zeit der Napoleonischen Kriege. Das europäische „Mächtekonzert“ – Großbritannien, das Königreich Neapel, Österreich, Preußen und die Niederlande – versucht, die Auswirkungen der Französischen Revolution einzudämmen oder, besser noch, rückgängig zu machen. Napoléon Bonaparte hatte 35.000 Mann losgeschickt, um vor der Nilmündung gegen die Briten zu kämpfen. Diese schlugen die Flotte des Generals und späteren Kaisers schließlich in die Flucht.

„Individuelle Erfahrung des Unsagbaren“

„Die Militärhistorie ist die individuelle Erfahrung des Unsagbaren“, schreibt Wolfgang Schlüter in seinem rund 400 Seiten starken Roman. Das Werk schlägt einen historischen Bogen von der späten Aufklärungszeit bis in die Gegenwart und wieder zurück. Es klärt den Leser darüber auf, welche Spuren vom heutigen Berlin ins „Königreich beider Sizilien“ führen und was eine Glasharmonika mit dem Vesuv gemeinsam hat. Und es erzählt von einem deutschen Landschaftsmaler, der in den Schwefelsümpfen vor Neapel verschwindet.

Ein „gewöhnlicher“ historischer Roman ist Schlüters Buch jedoch nicht. Die Erzählung startet im heutigen Berlin, danach werden immer wieder neue Erzählstränge als scheinbar authentische historische Zeugnisse eingewoben, die in anderen Epochen spielen, etwa Berichte der Harmonika-Spielerin Marianne Kirchgeßner, die über 200 Jahre lang lebte. Außerdem werden die historischen Kulissen immer wieder von detaillierten Charakterstudien durchbrochen.

Die Lady und ihre „Boudoir-Diplomatie“

Eine dieser Charakterstudien las Schlüter im Raum 025 der U2 vor: In die Erzählung von der misslichen Lage der britischen Kriegsflotte vor Neapel mischte er eine kenntnisreiche Darstellung von Lady Emma Hamilton, der damaligen Mätresse des britischen Admirals Horatio Nelson, und ihrer „Boudoir-Diplomatie“: Durch „Einflüsterungen, Bitten und kalkulierten Tränenfluss“ beeinflusste sie etliche Entscheidungen des legendären britischen Seehelden.

„Wie lange haben Sie denn gebraucht, um alle diese geschichtlichen Fakten zu recherchieren?“ fragte eine Studentin im Anschluss an die rund einstündige Lesung. „Ich hab` da ein bisschen was dazu gelesen“, antwortete der Schriftsteller bescheiden. Besonders hilfreich sei eine Dissertation zum Thema Lady Hamiltons Attitüden von Ulrike Ittershagen gewesen, gab der Autor seinem Publikum einen Buchtipp mit auf den Heimweg. Für diese Attitüden, also für die Darstellung antiker Kunstwerke als „lebende Bilder“, war Lady Hamilton europaweit berühmt. Erneut zum Leben erweckt wurden sie nun durch Schlüters Lesung an der Universität Bamberg.

Zum Autor

Wolfgang Schlüter, Jahrgang 1948, studierte in Hamburg, Berlin und Wien Musikwissenschaft und Philosophie. Seit 1994 arbeitet er als freier Autor und Übersetzer englischer Belletristik. Im April 2011 kam er als Stipendiat des Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia nach Bamberg. „Wir wollten Wolfgang Schlüter schon letzten Sommer zur Lesung einladen“, erklärt Prof. Dr. Friedhelm Marx, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. „Damals hat es leider nicht geklappt – umso erfreulicher, dass er heute für uns liest.“ Der Universität sei der Autor auch in anderer Weise verbunden: Erst kürzlich teilte er in einem Seminar zum Thema „Kreatives Schreiben“ seine Erfahrungen mit studentischen Jungautorinnen und -autoren.