Grenzgänger-Lesungen: Autoren der Gegenwart lesen aus ihren Werken (Foto: Wiros/Wikipedia).

Die Akteure des Abends (v.l.): Friedhelm Marx, Maja Pflüger und Kolja Mensing (Fotos: Rabea Nikolay).

Autorenkontakt bei der Autogrammstunde im Anschluss.

- Rabea Nikolay

Zwischen Ost und West

Lesungsreihe rückt Grenzen und Grenzüberschreitungen in den Fokus

„Der Untertitel des Buches lautet nicht etwa ein Roman, sondern eine Suche. Kolja Mensing spürt der Figur seines ihm nur durch die väterlichen Erzählungen bekannten Großvaters nach“, beginnt Prof. Dr. Friedhelm Marx, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Organisator der Vortragsreihe, seine Einführung in den Leseabend am 24. Oktober. Die geplante Annäherung an den Großvater weicht jedoch sukzessive der ernüchternden Entzauberung einer Heldenfigur, die es so nur in den Erinnerungen des Vaters gegeben hat. „Es ist ein Buch, das, wie ich finde, von Mitgefühl und Verständnis getragen wird für einen Menschen, der zwangsläufig über Grenzen getrieben wurde“, beschreibt Marx. Darum eigne sich Mensings Buch Die Legenden der Väter gut als Auftakt für die Veranstaltungsreihe „Zwischen Ost- und West: Grenzgänger-Lesungen“.

Im Rahmen dieser Vortragsreihe stellen renommierte Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Bücher vor, die Grenzen und Grenzüberschreitungen zwischen Ost und West beschreiben. Dabei handelt es sich um literarische Werke, deren Entstehung – wie auch die Bamberger Vortragsreihe selbst – durch das Grenzgänger-Programm der Robert Bosch Stiftung in Kooperation mit dem Literarischen Colloquium Berlin unterstützt wurde. Nicht nur an diesem, sondern auch an fünf weiteren Abenden lernen die Besucher der Bamberger Vortragsreihe unterschiedlichste Orte und Länder kennen.

Unterschiedliche Motive der Recherche

Das Grenzgänger-Programm fördert mit einem Recherchestipendium Autorinnen und Autoren, die einen eigenen Blick wagen, Informationen aus erster Hand sammeln und authentische Orte besuchen wollen. Die Veröffentlichungen sollen ein breites Publikum erreichen können, zu Diskussionen anregen und mehr Verständnis für andere Kulturen wecken. „Bis jetzt haben die Recherchen insgesamt in über 30 Ländern stattgefunden, vom Nachbarland Polen bis zur Mongolei oder Aserbaidschan“, erklärt Dr. Maja Pflüger, Betreuerin des Programms auf Seiten der Robert-Bosch-Stiftung. Seit 2004 haben 220 Autoren ein solches Stipendium bekommen, rund 100 Werke wurden schon veröffentlicht. Eine Vortragsreihe mit Grenzgänger-Stipendiaten an einer Universität gab es bisher noch nicht. Friedhelm Marx, der Organisator der Vortragsreihe, hat nicht nur mit der Konzeption dieser Vortragsreihe Neuland betreten, sondern bietet außerdem gemeinsam mit Dr. Stephanie Catani ein Seminar zu den Grenzgänger-Lesungen an, in dem die Autorinnen und Autoren mit Studierenden sowie mit allen interessierten Leserinnen und Leser über ihre Texte sprechen.

Und Möglichkeiten zum Gespräch gibt es reichlich, denn die Werke der an der Vortragsreihe teilnehmenden Grenzgänger-Stipendiatinnen und -Stipendiaten thematisieren verschiedenste Recherchemotive, die in den einzelnen Werken ganz unterschiedlich zum Tragen kommen. Das können Orte sein, die symbolisch aufgeladen werden wie bei Julia Schoch oder Sybille Lewitscharoff. Der Bezug zum Recherchemotiv kann auch aus der eigenen Biografie kommen wie bei Olga Grjasnowa oder sich auf völlig Fremdes beziehen wie bei Feridun Zaimoglu. Das Recherchemotiv kann das zentrale Thema des Buches sein, wie das bei Kolja Mensing der Fall ist oder nur ein Kapitel wie bei Jenny Erpenbeck.

Auf der Suche nach der Wahrheit

Kolja Mensings zentrales Thema, die Spurensuche in die Vergangenheit der eigenen Familie, stand im Mittelpunkt der ersten Grenzgänger-Lesung am 24. Oktober. Die Geschichten seines Vaters über dessen Kindheit hatte er geliebt. „Sie waren für mich wie ein einziges Idyll“, gesteht der Autor. Sein Vater erzählte ihm, dass sein Großvater als junger Mann bei dem Überfall der Deutschen auf Polen seinen Heimatort verlassen habe. Er sei mit falschen Papieren über die Karpaten nach Ungarn, Rumänien und Jugoslawien bis nach Griechenland geflohen und habe sich schließlich in Palästina heldenhaft den britischen Truppen angeschlossen, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Was über ihn erzählt wird, scheint innerhalb des Familiengedächtnisses zunehmend rissig, zweifelhaft und legendär, je weiter sich Mensing auf die Suche macht. Die Geschichten des Vaters über den Großvater konnten den Recherchen des Schriftstellers am Ende nicht Stand halten.

Die tragische Wahrheit über Großvater und Vater

Sein Großvater, so konnte Mensing im Rahmen seiner Recherche rekonstruieren, wurde in Wirklichkeit in die Wehrmacht eingezogen, kam nach Frankreich und in Kriegsgefangenschaft. Seine polnische Herkunft rettete ihn dann vor dem Kriegsgefangenenlager. So kam er zur polnischen Exilarmee in Schottland, bis er sich als polnischer Soldat unter britischem Befehl um seine Landsleute in Deutschland kümmern sollte. In der Folge kam er nach Fürstenau, wo er Mensings deutsche Großmutter Marianne kennen lernte.

Durch die Recherchen über seinen Großvater hatte Mensing auch von der tragische Kindheit seines Vaters erfahren, der unter seiner vom Leben enttäuschten Mutter und seinem Status als uneheliches Kind zu leiden hatte. „Das war für mich die eigentliche Geschichte des Buches und auch der Grund für die Veröffentlichung“, erläutert Mensing. Mit diesen Eindrücken und einer Neugierde auf sein  Buch aus dem die vorgetragenen Passagen stammen, entließ Mensing sein Publikum nachdenklich in den kühlen Oktoberabend.