Die Organisatoren der Ausstellung (v.l.n.r.): Denis Wachtel, Elisabeth von Erdmann und Marion Stahl (Fotos: Philipp Demling)

Durch die Ausstellung führten Marion Stahl...

... und Denis Wachtel am Eröffnungsabend

Besucher vor der Fotowand in der TB4

- Philipp Demling

Dem Mythos Sankt Petersburg auf der Spur

Literarische Fotoausstellung in der Teilbibliothek 4

„Die Errichtung Sankt Petersburgs symbolisierte den Sieg des Menschen über die Natur“, erklärte Prof. Dr. Elisabeth von Erdmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Slavische Literaturwissenschaft, bei der Eröffnung der Ausstellung Sankt Petersburg – Zwischen Himmel und Erde am 31. Mai in der TB 4. Sie leitete im Jahr 2009 die literarische Exkursion nach Sankt Petersburg, bei der die Exponate der Ausstellung entstanden. Aufgenommen wurden die Fotos vom Slavistikstudenten Denis Wachtel, der zusammen mit der Studentin Marion Stahl und Elisabeth von Erdmann die Ausstellung konzipierte. „Schon immer hat Petersburg inspiriert und polarisiert. Die Stadt war ein Schlag ins Gesicht des alten Russland“, führte die Professorin aus.
Eine der Ursachen dafür war der Gründungsmythos der Stadt. Anfang des 18. Jahrhunderts stand der Herrscher des Russischen Reiches Peter I., der auch als Peter der Große bekannt ist, in den Sümpfen entlang des Flusses Neva und dachte sich: „Hier will ich meine Stadt erbauen!“ Wenige Jahre und unzählige verunglückte Bauarbeiter später stand Sankt Petersburg – das übrigens nicht nach Peter dem Großen, sondern nach dem Schutzheiligen Simon Petrus benannt ist. Es war eine majestätische Stadt, die sich architektonisch eher an westlichen als an russischen Metropolen orientierte. Sie sollte dem Herrscher als „Fenster nach Europa“ und als langersehnter Zugang zur Ostsee dienen. 1712 ernannte Peter der Große Sankt Petersburg zur Hauptstadt des Russischen Reiches. Diese populäre Erzählung über den weitsichtigen und rücksichtslosen Zaren, der die Stadt aus dem Nichts erschuf, wurde zum politischen und literarischen Mythos.

„Bilder müssen Geschichten erzählen“

Von der Einzigartigkeit dieser Stadt können sich in den nächsten Wochen die Bamberger überzeugen, wenn sie die Teilbibliothek 4 besuchen. „Ausstellungen haben hier in der Bibliothek bereits Tradition“, meint Bibliotheksdirektor Dr. Fabian Franke. „Während aber bei den bisherigen Ausstellungen Künstler von außen ihre Ideen in die Universität getragen haben, zeigen wir hier nun zum ersten Mal Werke von Studierenden.“ Die Bibliothek sei mehr als nur ein Ort zum Arbeiten, sie wolle zum Verweilen einladen.
Eine Fotoausstellung in der Universitätsbibliothek – das hält auch Kanzlerin Dr. Dagmar Steuer-Flieser für eine gute Idee: „Es passt zu unserem Konzept des lebenslangen Lernens.“ Dabei sei Fotografie als Kunstform lange Zeit kaum akzeptiert worden. Auch Denis Wachtel weiß, dass Fotografieren nicht immer Kunst ist. Er schoss in neun Tagen rund 11.000 Fotos von Sankt Petersburg: „Wenn die Bilder nichts erzählen, sind sie nichts wert. Knipsen kann jeder.“ Jedes gute Foto müsse eine Geschichte erzählen.

Das literarische Sankt Petersburg

Einige der Fotos erzählen die tragische Geschichte der russischen Dichterin Anna Achmatova (1889 - 1966), auf deren Spuren die Teilnehmer der Exkursion wandelten. „Sie hat lange, leidvolle Jahre in Sankt Petersburg verbracht“, erklärt Marion Stahl, die gemeinsam mit Wachtel die Ausstellung gestaltete. Unter Stalin habe sie Schreibverbot erhalten, ihr Mann und ihr Sohn seien inhaftiert, viele ihrer Freunde umgebracht worden. Doch auch heitere Episoden der Exkursion hielt Denis Wachtel mit seiner Kamera fest, etwa drei angetrunkene junge Männer, die in der Neva baden wollten, aber von einem energischen Milizionär davon abgehalten wurden.
Eine Bilderausstellung in der Universitätsbibliothek mache viel Arbeit, verriet Marion Stahl: „Wir haben etwa zwei Monate daran gearbeitet. Vor allem die letzten zwei Wochen waren richtig stressig.“ Aus den 11.000 Fotos mussten sie ungefähr 90 auswählen, sie entwickeln, auf Holzplatten kleben und aufhängen. Die Fotos werden von Zitaten russischer Dichter und Schriftsteller begleitet, die sich auf das literarische Sankt Petersburg beziehen. In der Literatur wurde der Stadtmythos aus Worten erbaut, erklärte Elisabeth von Erdmann. „Wir wollten mit der Ausstellung eine Verbindung zu diesem Mythos herstellen.“

Die russische Seele verstehen

Der mythische Charakter von Sankt Petersburg kommt in unterschiedlichen Fotomotiven zum Vorschein: In den Kunstwerken der Eremitage, den Kanälen, Brücken, Palästen, Bürgerhäusern der Stadt, in verfallenen Hinterhöfen, historischen Tafeln oder alltäglichen Straßenszenen. „Bamberg ist auch schön“, findet Denis Wachtel. „Aber es berührt mich längst nicht so wie Sankt Petersburg.“ Sankt Petersburg sei die Stadt zwischen Himmel und Erde, zwischen Einzigartigkeit und irdischer Verdammnis. Den Besuchern der Ausstellung rät Denis, sie sollten versuchen, „die russische Seele zu verstehen“. Er selbst stamme aus Zentralasien, habe sich auf die russische Seele also auch erst einmal einlassen müssen. Deren Erforschung beschränkte sich für die Besucher der Ausstellungseröffnung übrigens nicht auf das Betrachten der Bilder: Bei Bliny und Piroschki – Spezialitäten der russischen Küche, die Wachtels Mutter zubereitet hatte – tauchten sie in das mythische Sankt Petersburg ein.