Andrea Bartl (l.), Iris Hermann (zweite v. l.) und Jörn Glasenapp (r.) freuten sich, Thomas Glavinic zu dessen erstem Vortrag in Bamberg begrüßen zu dürfen (Fotos: Andrea Lösel)

Mit dem 1972 in Graz geborenen Thomas Glavinic übernimmt einer der bekanntesten Gegenwartsautoren Österreichs die diesjährige Poetikprofessur

Signierstunde im Anschluss an den Vortrag

Über 200 Zuhörer waren zum ersten Vortrag der Bamberger Poetikprofessur gekommen

- Andrea Lösel

Über das schriftstellerische Heute

Thomas Glavinic ist Poetikprofessor 2012

„Ich saß auch mal da, wo Sie jetzt sitzen.“ Thomas Glavinic trat ans Rednerpult und warf einen Blick ins Publikum. Mehr als 200 Zuhörinnen und Zuhörer waren am 19. Juni zu seiner ersten Vorlesung als Bamberger Poetikprofessor 2012 gekommen. Dann erzählte der Österreicher von seinem Germanistikstudium an der Karl-Franzens-Universität Graz. Und davon, wie er es nach ein paar Semestern hinwarf. „Ich wusste, dass ich Schriftsteller werden wollte. Aber mir hat keiner gesagt, dass man durch ein Germanistikstudium nicht zum Schriftsteller ausgebildet wird.“

‚Unberechenbarer’ Autor im besten Sinn

Inzwischen hat er es auch ohne Studium zum Schriftsteller gebracht. Und zwar zu einem höchst erfolgreichen. Der 1972 in Graz geborene Glavinic zählt zu den bekanntesten Gegenwartsautoren Österreichs. „Sein Werk stellt in der gegenwärtigen Literaturszene zweifellos etwas ganz Besonderes dar“, kündigte Prof. Dr. Jörn Glasenapp, der neben Prof. Dr. Andrea Bartl und Prof. Dr. Iris Hermann Mitorganisator der diesjährigen Poetikprofessur ist, den Autor an. Er und ging der Frage nach, worin das Besondere der Glavinic‘schen Prosa liege. Besonders hob er hierbei den inhaltlichen und formalen Facettenreichtum der Texte Glavinics hervor: „Thomas Glavinic ist – im besten Sinne! – ein ‚unberechenbarer’ Autor, aus dessen schriftstellerischem Heute wir nicht auf dessen schriftstellerisches Morgen geschweige denn Übermorgen schließen sollten.“

1998 veröffentlichte Glavinic seinen Debüt-Roman Carl Haffners Liebe zum Unentschieden, in dem er den Kampf um die Schachweltmeisterschaft 1910 schildert. In Herr Susi rechnet er mit der Fußballvermarktungsmaschinerie ab. Der Kameramörder gehört zur Kategorie der Kriminalromane, Wie man leben soll ist ein satirischer Entwicklungsroman. In Das bin doch ich geht es um einen Autor namens Thomas Glavinic, der den Deutschen Buchpreis nicht bekommt – der Roman schaffte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zuletzt erschien vergangenes Jahr Unterwegs im Namen des Herrn, eine absurde Erzählung über die Suche zweier Atheisten nach Erleuchtung.

Komplexe Gedanken in einfachen Sätzen

Glavinic lässt sich nicht begrenzen. Nicht auf ein Thema, nicht auf ein Genre. „Was ich mag und was ich nicht mag“, kündigte er den ersten Teil seiner Poetikvorlesung an. In dem Text griff Glavinic die Gattungsmerkmale einer klassischen Poetikprofessur auf, reflektierte sie und übertrug sie sowie sein eigenes Schreiben und seine Themen in die „I like“-Argumentation der Facebook-Gegenwart. Dabei präsentierte er neben Alltäglichkeiten und unerfüllten Herzenswünschen auch gnadenlose Blicke auf das eigene Schriftstellertum und den Literaturbetrieb. Mit der Aussage, dass er den Sommer möge, setzte der Text ein – wegen der lauen Nächte und weil man nicht viel anziehen müsse. Freiheit, frische Mangos und gute Boxkämpfe setzten die Liste fort. Nicht zu vergessen der Fußball: „In meiner Fantasiewelt ist die ganze Nacht ein Fußballländerspiel.“ Glavinics Sprache kommt im schlichten Alltagsgewand daher. „Ich mag ein Gefühl für Melodie und Schnörkellosigkeit“, bekannte sein Text. Und bewies, dass große Gedanken auch in einfachen, kleinen Sätzen nichts von ihrer Wirkung einbüßen.

„Ich mag einen großen Teil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht“, zerschmetterte der Text in einem Satz das literarische Verdienst ganzer Autorenriegen. Und forderte: „Wenn schon schreiben, dann über die wesentlichen Dinge, die das Sein in unserer Gesellschaft ausmachen.“ Liebe, Tod, Glück, Erfolg, Unendlichkeit. Nur um ein paar Takte später zu fordern: „Wenn Sie etwas von mir wollen, legen Sie erst mal Geld auf den Tisch!“ Veranstalter literarischer Lesungen, die annehmen, er gäbe sich mit „der rustikalen 2-Sterne-Pension mit charmantem Familienanschluss anstelle eines Fernsehers“ zufrieden, wurden gnadenlos in die „Was ich nicht mag“-Schublade einsortiert. Doch kaum hatte der Zuhörer sich dazu entschlossen, diesem Glavinic selbst einige Etiketten aufzudrücken, das eines „schwierigen Zeitgenossen“ etwa, kam wieder einer dieser nachdenklichen und bedeutungsschweren Sätze, um derentwillen man ihn dann doch sympathisch finden musste: „Erfolg bedeutet für mich dieses Glücksgefühl, wenn ich zwei Seiten geschrieben habe und fühle, dass das, was ich geschrieben habe, wirklich gut ist.“

„Dramaturgische Vorhersehbarkeit einer Schlusspointe“

Doch wer sprach da eigentlich? War der Text höchstpersönliche Auskunft des Schriftstellers Thomas Glavinic oder war man doch wieder auf dem Glatteis der vermeintlichen Nonfiction ins Schlittern geraten? „Ich mag Bücher, die dem Leser, der es sich zu leicht macht, reinreden“, las Glavinic weiter. Und ließ die Frage, wie viel Autor denn nun in diesem Ich-Erzähler stecke, unbeantwortet.

In den kommenden Wochen finden drei weitere Vorlesungen der Bamberger Poetikprofessur statt. Worum es gehen wird? Wisse er noch nicht, sagte Glavinic und zuckte mit den Schultern – wobei auch das bei Thomas Glavinic Programm ist, denn seine Romane lassen sich kaum auf eine klare werkgeschichtliche Linie festschreiben. Vielmehr überraschen sie den Leser immer wieder mit neuen Genres, Stilen, Themen. Daher steht für die Bamberger Poetikdozentur 2012 eins fest: Glavinic wird wohl wieder für die eine oder andere Überraschung sorgen und Erwartungshaltungen unterlaufen. So endete auch der erste Vortrag mit den Worten: „Ich mag es, wenn Schriftsteller auf die dramaturgische Vorhersehbarkeit einer Schlusspointe verzichten und einfach irgendwie aufhören.“ Nach 45 Minuten voller „Ich mag“- und „Ich mag nicht“-Sätzen klappte Glavinic sein Notebook zu, blickte nochmals ins Publikum und verließ das Rednerpult.

Weitere öffentliche Vorlesungen von Thomas Glavinic

Im Rahmen von drei weiteren Abendvorträgen, die am 26. Juni, 3. Juli und 10. Juli jeweils in der U 2 / 025 um 20 Uhr c.t. stattfinden werden, wird der Autor über sein Werk, sein Schreiben und seine Poetik sprechen.

Den Abschluss der Poetikprofessur bildet das Internationale Forschungskolloquium Zwischen Alptraum und Glück: Thomas Glavinics Vermessungen der Gegenwart, das am 11. und 12. Juli im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia (Concordiastr. 28) stattfinden und Literaturwissenschaftler aus dem In- und Ausland, Literaturkritiker sowie den Autor selbst in Dialog miteinander bringen wird. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen!

Die Poetikprofessur hat eine lange Tradition: Seit 1986 laden die Professorinnen und Professoren für Neuere deutsche Literaturwissenschaft jedes Jahr renommierte Autoren ein, die in einem Seminar für Studierende und in öffentlichen Vorlesungen Einblick in ihr Werk und ihren Schreibprozess geben.