Eva Menasse diskutiert mit Friedhelm Marx. (Fotos: Karsten Becker)

Quasikristalle, Lässliche Todsünden, Vienna - Menasses Bestseller.

Bis auf den letzten Platz gefüllt: der Hörsaal in der U2.

Menasse und Merkel mit neuem Blick auf Gegenwartsliteratur

Literaturlesungen im Sommer starten mit großem Interesse

Mit ihrem Roman Quasikristalle hat die österreichische Autorin Eva Menasse ein Plädoyer für Erzählungen vorgelegt. An der Universität las sie Auszüge daraus und erklärte ihre Liebe für Perspektivwechsel. Die Reihe Literatur in der Universität setzt am kommenden Freitag Schriftsteller Rainer Merkel fort.

Eva Menasse führt an diesem Abend einen Kampf. Gerade hat sie Auszüge aus ihrem 2013 erschienenen Roman Quasikristalle gelesen. Sie blickt in die Gesichter ihres Publikums. Kein Platz ist mehr frei, einige stehen. „Deutschsprachige Erzählungen werden umgebracht!“ Menasses Stimme schallt aus den Lautsprecherboxen, so laut und deutlich wurde sie an diesem Abend bisher nicht. Sie will sich nicht zufrieden geben mit der Behauptung der Verleger, Erzählungen würde heutzutage keiner mehr kaufen. Ganz im Gegenteil, sie seien die verdichtetste Form von Literatur, „die Essenz der Literatur“. Das größte Kompliment mache man ihr, indem man sage, die dreizehn Kapitel von Quasikristalle seien dreizehn Erzählungen für sich. Dreizehn verschiedene Perspektiven, dreizehn Romane in einem. Anders gesagt, „ein Buch über den Blick“. Der auf über 400 Seiten stets etwas anderes vermittelt. Es kommt nur darauf an, wer gerade blickt, wann, wo und wie.

Menasse lässt die Erzählung im Roman auferstehen

Als Journalistin berichtete Menasse im Jahr 2000 aus London über den Prozess gegen den Holocaustleugner David Irving. Daraus entstand das Buch Der Holocaust vor Gericht. 2005 folgte ihr Debütroman Vienna, Menasse ist gebürtige Wienerin, lebt heute aber in Berlin. Ihr Vater Hans Menasse war österreichischer Fußballnationalspieler, ihr Halbbruder Robert Menasse ist ebenfalls Schriftsteller. 2009 publizierte sie sieben Erzählungen unter dem Titel Lässliche Todsünden. Wenn Eva Menasse, die im vergangenen Jahr unter anderem mit dem Heinrich-Böll-Preis ausgezeichnet wurde, über die Hauptfigur ihres jüngsten Romans nun sagt, „ich kannte sie weder vor dem Schreiben, noch danach“, dann nicht, um den frohlockenden Literaturwissenschaftler zu bauchpinseln. Es sei vielmehr ihre grundlegende Überzeugung: „Ich glaube, dass man niemanden hundertprozentig kennen kann.“

„Wer ist eigentlich die Figur Xane?“, fragt auch Prof. Dr. Friedhelm Marx, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, als er den Abend eröffnet, der im Rahmen der Reihe „Literatur in der Universität“ stattfindet. Das Buch habe ihn an einen unverhofften Fund alter Fotos erinnert, „eine Fotoserie, von der wir nicht mehr genau wissen, wie sie zusammengehört“. Ihre Überzeugung hat Eva Menasse in Quasikristalle in Buchform gebracht, erzähltechnisch innovativ und konsequent auskonstruiert, im besten Sinne des Wortes. Jedes Kapitel hat den Charakter einer eigenen, kurzen Erzählung.

„Das eigene Verschwinden ist keine Drohung“

Xane Mole ist zugleich Protagonistin und die einzige Figur, die in allen dreizehn Kapiteln von Quasikristalle auftaucht. Und dabei mal mehr, mal weniger im Fokus steht. Der Leser bekommt Ausschnitte aus Xanes gesamten Leben erzählt, von der Pubertät ins Großmutteralter. Die Schilderungen kommen jedoch in jedem Kapitel aus der Perspektive einer anderen Figur: Mal ist es der Reiseleiter, mit dem Xane in ihrer Studienzeit auf eine Ausschwitz-Exkursion fährt, mal die Schwester einer früheren Schulfreundin, die sie zufällig in Berlin trifft. Wie wenn stets ein neuer Scheinwerfer sein Licht auf die Figur wirft, selten direkt ins Gesicht, manchmal ist sie sogar nur schwach beleuchtet. Nur ein Kapitel wird direkt aus Xanes Perspektive erzählt, da ist sie bereits erfolgreiche PR-Managerin und mit einem Professor verheiratet. Dort blickt sie auf anderthalb Jahrzehnte Berufs- und Familienleben zurück: „Wer etwas will, muss lästig sein. Das eigene Verschwinden ist keine Drohung.“ Zumindest der letzte Satz steht programmatisch, für die Figur Xane genauso wie für den Roman Quasikristalle.

Als Kind war sie der traurige Clown

Sie arbeite mit „Brillenfiguren“, sagt Menasse, nachdem sie aus drei verschiedenen Kapiteln des Buches gelesen hat. Die Brille wandert in Quasikristalle von einer Nase auf die andere. Eine Zuhörerin fragt nach der Schwierigkeit, die das Schreiben mit Perspektivwechseln machen müsse. „Ich habe mich als Kind gerne verkleidet. Jahrelang war ich immer der traurige Clown“, antwortet Menasse. Beim Schreiben sei es umgekehrt. Der Reiz liege in dem ständigen Wechsel der Perspektive. Dass es genau darum geht, drückt bereits der Buchtitel aus. Quasikristalle sind Moleküle mit einer aperiodischen Struktur. Sie erwecken beim Betrachter im Gegensatz zu „gewöhnlichen“ Kristallen in ihrem Aufbau einen ungeordneten Eindruck. Während die Struktur eines Kristalls bei Perspektivwechseln in der Regel das gleiche Ordnungsprinzip aufweist, zeigt eine Änderung des Blickwinkels bei Quasikristallen stets neue Muster. Als der israelische Wissenschaftler Daniel Shechtman 1982 die Quasikristalle experimentell entdeckte, ahnte er vermutlich nicht, dass er dafür 2011 den Chemie-Nobelpreis erhalten und zwei Jahre später Eva Menasse ein Buch mit dem Titel Quasikristalle veröffentlichen würde.

„Kann nicht nach der Chaosstrategie schreiben“

Trotz der ungewöhnlichen Strukturierung des Buches habe sie den Roman „nicht nach der Chaosstrategie geschrieben“, also die einzelnen Kapitel erst nachträglich in eine zeitlich korrekte Abfolge gebracht, betont Eva Menasse. Quasikristalle habe sie von Beginn an chronologisch geschrieben. So wie man ein Puzzleteil nach dem anderen lege, passten auch bei einem Roman die verschiedenen Stücke nur an einer bestimmten Stelle. Jedoch breitet Quasikristalle nicht alle Puzzleteile vor dem Leser aus. Manche spart der Roman bewusst aus. Einige sind schärfer konturiert als andere, oder zeigen andere Personen und andere Möglichkeiten. Ein Puzzleteil kann ein ganzes Bild verändern. Ein neuer Blickwinkel kann einen neuen Menschen zeigen. Eva Menasse hält ihr Buch zugeklappt in der Hand und sagt: „Wer uns nicht mag, bekommt oft nur das Puzzleteil zu sehen, das wir selbst womöglich gar nicht wahrnehmen.“

Rainer Merkel mit neuen Texten

Ein neuer Blick auf Literatur eröffnet sich bereits wieder am kommenden Freitag, wenn Rainer Merkel die Reihe „Literatur in der Universität“ fortsetzt und aus neuen Texten liest. Mit seinen literarischen Reportagen im 2012 erschienenen Buch Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan geht Merkel der Frage nach, welche Auswirkungen Gewalt und Traumata auf Menschen haben. In Liberia arbeitete er ein Jahr lang für die Hilfsorganisation Cap Anamur in einer Psychiatrie. Er bereiste auch die kriegsgezeichneten Länder auf dem Balkan und am Hindukusch, unter anderem als „Embedded Journalist“ bei der Bundeswehr. 2013 erschien Merkels Roman Bo, der von einem Road-Trip durch Westafrika erzählt. Die Lesung findet im Rahmen eines Schreib-Workshops der Bayerischen Akademie des Schreibens statt, an dem auch Studierende aus Bamberg teilnehmen. Rainer Merkel leitet diesen Workshop gemeinsam mit der Lektorin Doris Plöschberger (Suhrkamp Verlag), die die Lesung moderieren wird. Beginn ist um 19 Uhr im Hörsaal U2/00.25.

Hinweis

Diesen Text verfasste Karsten Becker für die Pressestelle der Universität Bamberg. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.

Bei Fragen oder Bilderwünschen kontaktieren Sie die Pressestelle bitte unter der Mailadresse medien(at)uni-bamberg.de oder Tel: 0951-863 1023.